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Im Interview
Marathon-Bundestrainer Matthias Kohls: „Bei Olympia ist alles möglich“

| Interview: Anja Herrlitz | Foto: Norbert Wilhelmi

Noch nie waren die deutschen Marathonis so stark wie heute. Marathon-Bundestrainer Matthias Kohls spricht im Interview über die spannende Qualifikation und was er den Deutschen bei Olympia zutraut.

Matthias, die Leistungsdichte im deutschen Marathonlauf war noch nie so hoch, der Kampf um die Olympia-Tickets noch nie so erbittert wie in diesem Jahr. Letztlich haben sechs Frauen und vier Männer die Norm unterboten, es dürfen aber nur jeweils drei starten. Wie hast du die Olympia-Qualifikation erlebt?
Die zweite Jahreshälfte 2023 war phänomenal. Man konnte schon erwarten, dass der Marathon-Kader stark ist. Aber diese Dramaturgie und Zuspitzung im Dezember und Januar – das war nicht abzusehen.

Es war bis zum Ende des Nominierungszeitraums am 31. Januar spannend. Hendrik Pfeiffer und Deborah Schöneborn sind am 14. Januar in Houston, Katharina Steinruck am 28. Januar in Osaka gelaufen. Alle drei haben den Sprung ins Olympia-Team nur um Sekunden verpasst …
Ja, das war wirklich ein Krimi. Es gab so viele Teilgeschichten. Melat Kejeta zum Beispiel, von der wir gedacht haben, sie wird die Stärkste sein. Und die dann in Valencia im Dezember ausgestiegen ist und deren Start plötzlich auf der Kippe stand, bevor sie in Dubai im Januar doch noch die Kurve bekommen hat. Oder Richard, der vielleicht schon hoffte, in Hamburg im Frühling 2023 in 2:08:08 Stunden alles klargemacht zu haben. Und der dann realisierte, dass er noch nachlegen muss.

Trial-System für Olympia 2028?

Das Schöne daran ist, dass Deutschland je drei starke Läuferinnen und Läufer nach Paris schicken kann. Schade ist aber natürlich, dass so gute Athletinnen und Athleten wie Deborah Schöneborn, Katharina Steinruck, Fabienne Königstein und Hendrik Pfeiffer, die alle die Norm unterboten haben, daheimbleiben müssen. Wie bewertest du das?
Natürlich ist es schade. Aber diese vier haben den Boom auch mitausgelöst, indem sie so einen Druck ausgeübt haben. Und es gibt ja noch mehr Läuferinnen und Läufer, die das auch gemacht haben. Miriam Dattke und Simon Boch zum Beispiel, die beim Frankfurt-Marathon Pech hatten. Sebastian Hendel, der in München fehlgeleitet wurde. Filimon Abraham, der das Jahr 2023 mit dem ersten Paukenschlag von 2:08:22 Stunden eröffnet hat und dann verletzungsbedingt nicht mehr eingreifen konnte. Oder Haftom Welday, der als 15. in Budapest letztes Jahr eine super WM gelaufen und jetzt nicht einmal als Ersatz dabei ist. Für alle, die es jetzt nicht geschafft haben, ist das natürlich brutal und enttäuschend. Ausblickend werden wir uns bei der momentanen Leistungsdichte mit dem Thema „Trials“ für Olympia in Los Angeles 2028 beschäftigen.

Was traust du den Deutschen in Paris zu?
Es gibt überhaupt nur fünf Nationen, in denen Deborah Schöneborn und Hendrik Pfeiffer, als jeweils Viertbeste bei den Frauen und Männern, nicht im Team wären. Wir gehören vom Papier also schon zu den sechs besten Nationen. Wir werden uns natürlich mit größtmöglicher Professionalität und Akribie vorbereiten. Und ich denke Top Fünf als Team und dazu zwei bis vier Top-Zwölf-Platzierungen das wäre ein ambitioniertes, aber nicht unrealistisches Ziel.

Strategische Ausscheidungsrennen

Was erwartest du generell für die Rennen in Paris?
Ich denke, es werden strategische Ausscheidungsrennen. Wer nach Paris reist, um Bestleistung zu laufen, der wird sicherlich scheitern. Denn der Kurs hat es wirklich in sich.

Weltrekordler Kelvin Kiptum aus Kenia ist im Februar nach einem Autounfall verstorben. Macht Eliud Kipchoge, der in Rio und Tokio gewonnen hat, das Triple perfekt?
Man hatte ja versucht, das Olympia-Rennen zu einem Duell zwischen Weltrekordler Kelvin Kiptum und Ex-Weltrekordler Eliud Kipchoge zu machen. Ich glaube nicht, dass es so gekommen wäre, auch wenn Kelvin Kiptum nicht verstorben wäre. Olympia ist immer ein Ort der Überraschungen, wo alles möglich ist. Und ich glaube auch, dass Eliud Kipchoge seinen Zenit überschritten hat. Er weiß natürlich, wie man solche Rennen gewinnen kann. Aber ob er körperlich dazu in der Lage ist, das muss er erst noch beweisen.

Offene Rennen bei Männern und Frauen

Kann man sowohl bei den Männern als auch Frauen überhaupt Favoriten bzw. Favoritinnen ausmachen?
Ich möchte mich nicht festlegen – bei dem, was da gerade im Marathonlauf los ist. Wenn man einen guten Tag erwischt und eine Strategie hat, kann da viel möglich sein. Ich kann keine Favoriten und Favoritinnen erkennen.

Du hattest es schon angesprochen: Der Kurs in Paris beinhaltet einige Höhenmeter und auch deutliche Steigungen. Wie schätzt du den Kurs ein?
Die Streckenführung folgt dem historischen Motiv von 1789, dem „Marsch der Frauen“ nach Versailles, um den König in die Stadt zu holen. Die brauchten damals zwei Tage – schnell ist anders. Aber im Ernst: Höhenmeter und Steigungen sind das Eine. Am kritischsten sehe ich aber die Passagen mit Gefälle. Eine der Bergab-Rampen ist so extrem steil, dass man das auf jeden Fall vorher trainieren muss. Das werden wir in die Vorbereitung mit aufnehmen.

Schwung von der EM mitnehmen

Liegt der Kurs den deutschen Läuferinnen und Läufern?
Mit Domenika Mayer und Laura Hottenrott haben wir ja sogar zwei Bergläuferinnen dabei, die so etwas auch schon im Wettkampf erlebt haben. Denn Bergablaufen im Training ist auch noch mal etwas anderes als im Wettkampf. Da haben die beiden gewisse Vorerfahrungen. Aber alle anderen werden das natürlich auch trainieren und sich nicht nur das Profil auf dem Papier anschauen. Unmittelbar nach der EM in Rom werden wir in Paris die Strecke auch noch einmal genau betrachten und zusammen mit unserem medizinischen Kompetenz-Team die Renntaktik besprechen.

Bei den Europameisterschaften in Rom im Juni werden die Olympia-Starterinnen und -Starter auch laufen?
Die EM ist eine wichtige Zwischenstation. Momentan haben sich fast alle Olympia-Starter und -Starterinnen vorgenommen, dort den Halbmarathon zu laufen, bei dem je sechs Läuferinnen und Läufer pro Nation starten dürfen. Dort gibt es ja auch eine Teamwertung. Das wäre ein schöner Auftakt und auch sehr motivierend für die letzten Vorbereitungs-Wochen, wenn wir nach Rom mit positiven Erlebnissen in die letzte Phase übergehen könnten.

Wenn wir über Olympia hinausschauen: Die Entwicklung im Marathon ist gerade rasant. Was denkst du, ist im deutschen Marathonlauf in den kommenden Jahren möglich?
Es gab dieses Jahr in Deutschland Läuferinnen und Läufer, die Pech hatten und sicherlich noch schneller hätten laufen können. Miriam Dattke, Simon Boch, Sebastian Hendel oder auch Haftom Welday. Filimon Abraham war verletzt und konnte gar nicht eingreifen. Wenn man allein die nimmt, hätten wir eigentlich schon zwei Teams für Paris stellen können. Und es hat auch keine und keiner von den aktuellen Top-Läuferinnen und -Läufern ein Karriereende angekündigt. Dazu kommen noch Läuferinnen und Läufer von den Unterdistanzen, die sich in den nächsten Jahren bestimmt auch am Marathon ausprobieren werden. Alina Reh, Konstanze Klosterhalfen und Nils Voigt zum Beispiel. Ich bin zuversichtlich, dass wir in den nächsten drei bis fünf Jahren noch eine weitere Leistungssteigerung erleben werden.