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Hindernisläufe
So fand die Liebe für den Matsch ihren Anfang

| Texte: Stefan Schlett | Fotos: Guillaume Villegier, Horst Klement, Spartan Races, Stefan Schlett

Alles begann 1987 mit dem Tough Guy: Laufwettbewerbe wurden garniert mit Hindernissen, Matsch und Wasser. 1997 war laufen.de-Autor Stefan Schlett der erste Deutsche beim Tough Guy. Ein Rückblick.

Sich voller Wonne im Schlamm wälzen, durch eiskaltes Wasser schwimmen und tauchen, Hindernisse jeder Schwierigkeitsstufe überwinden und zwischendurch auch noch einige Kilometer zurücklegen. Dafür auch noch einiges an Geld zahlen, sich eventuell kostümieren und: jede Menge Spaß haben. Wenn all das passiert, dann handelt es sich um Schlamm- und Hindernisläufe oder auch OCR-Races – Obstacle Course Racing, wie man sie heute meist nennt.

Der Trend zu immer verrückteren, ausgefalleneren und kurioseren Läufen hat auch die OCR-Rennen hervorgebracht. Angefangen hat alles mit dem Tough Guy Race, also dem Rennen für harte Kerle, in der Nähe der englischen Stadt Wolverhampton bei Birmingham, im Januar 1987.

Nichts für Menschen, die Schmutz hassen

Herzstück der 12 Kilometer langen Tortour sind unzählige Hindernisse, die die Teilnehmenden überwinden müssen: unter Stacheldraht durch Schlamm robben, durch enge Betonröhren kriechen, durch eiskalte Tümpel tauchen, in stinkende Brühen springen, über schmierige Seil- und Holzkonstrukte klettern, Passagen mit herunterhängenden Stromkabeln queren, durch brennende Heuballen rennen und immer wieder laufend, schwimmend und tauchend durch eiskalte Gewässer, die teilweise sogar zugefroren sind.

Wer Höhen- oder Platzangst hat, ist hier ebenso fehl am Platz wie alle, die Schmutz hassen. Von den rund 6000 Startenden erreicht oft nur knapp die Hälfte das Ziel. „Beim Tough Guy“, schrieb „Der Spiegel“ einmal in einer Reportage, „darf man sich nicht nur vollständig bekleidet auf einem riesigen Abenteuerspielplatz im Dreck wälzen, man bekommt auch noch eine Medaille dafür, und die Umstehenden jubeln einem zu. Nie hat Erwachsensein so viel Spaß gemacht.“

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Vom Militär inspiriert

Erfinder des Rennens ist Billy Wilson, der zuvor bei den königlichen Grenadier Guards, ein Regiment der Britischen Armee, Trainingscamps für Elitetruppen entworfen hatte. Weil ihm das normale Marathonlaufen zu langweilig geworden war, hatte er die Idee, jene Art von Militärcamps auf den zivilen Bereich zu projizieren und im Rahmen eines Crosslaufs mit zunächst einfachen natürlichen Hindernissen anzubieten.

Niemand konnte damals ahnen, welchen Hype er damit auslösen würde und dass sich dieses Wettkampfformat zwei Jahrzehnte später weltweit verbreitet. Der Tough Guy sollte die Mutter aller Hindernisläufe werden. Von anfänglich knapp 100 Teilnehmenden stieg die Zahl mit jeder Berichterstattung und mit jeder Verschärfung des Hindernisparcours sprunghaft an.

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Aus Charity-Event wird ein Bestseller

Dabei wollte Wilson mit dem Charity-Event lediglich einen Gnadenhof für Pferde finanziell unterstützen. Die Tettenhall Horse Sanctuary, dessen Leiter er ist, kümmert sich um ausgesetzte und verwahrloste Tiere. Das 600 Hektar große Areal, wo auch das Rennen stattfindet, beherbergt über 100 Pferde und Tiere verschiedener Gattungen. Vollzeitarbeitskräfte bewirtschaften das Gehöft. Beschäftigungsprogramme für arbeitslose Jugendliche und Behinderte, die Ausbildung zum Pferdemeister bzw. -meisterin, Workshops und Wochenend-Trainingskurse auf dem Hindernisparcours werden angeboten.

Die vielfältigen Aktivitäten sollen die Rückbesinnung auf ein einfaches, hartes, sportliches und gesundes Leben sowie die Abkehr von der Dekadenz der Großstädte und der Wohlstandsgesellschaft vermitteln. Schon bald bildeten die Erlöse und das alljährlich großzügige Spendenaufkommen durch den Tough Guy die Haupteinnahmequelle des Projektes.

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„Der Streckendesigner muss ein Sadist sein“

Über ein viertel Jahrhundert ist vergangen, seit ich 1997 als erster Deutscher Teilnehmer beim Tough Guy diese ganz spezielle Form der körperlichen Ertüchtigung und Belustigung, gepaart mit typisch englischem Humor, durch eine siebenseitige Reportage in einem Schweizer Journal auf dem Kontinent bekannt machte. „Eine endlose Serie von Wassergräben wird immer wieder von kurzen und steilen Laufpassagen unterbrochen, um den Körper auf Betriebstemperatur zu halten. Kaum hat man sich von der letzten Gemeinheit erholt, folgt die nächste. Der Designer dieses Streckenabschnitts muss ein professioneller Sadist sein!“, schrieb ich damals.

Schon 1998 waren einige Kamerateams dabei, die Kurzberichte für verschiedene deutsche Privatsender lieferten und 1999 – bei meiner dritten und letzten Teilnahme – produzierte ich mit PRO 7 eine halbstündige TV-Reportage. 2000 fand dann auch der aufstrebende „Jung-Extremist“ Joey Kelly, ebenfalls mit Kamerateams im Schlepptau, zu diesem Wettbewerb und verschaffte ihm zusätzlichen Bekanntheitsgrad.

Die Schlammrennen kommen nach Deutschland

Spätestens jetzt, als die bewegten Bilder in aller Härte in die Wohnzimmer der deutschsprachigen Länder Einzug hielten, konnte sich der Veranstalter vor Läuferinnen und Läufern aus der Schweiz, Österreich und Deutschland kaum mehr retten. Der Tough Guy erhielt einen gewissen Selbstmörder-Status und schaffte es auf die To-do-Liste für zukünftige Extremsportler und -sportlerinnen. In deutschen Landen wird es so etwas schon alleine aus Versicherungs-, Genehmigungs- und sicherheitstechnischen Gründen niemals geben, kein Veranstalter wird ein derartiges Risiko eingehen, prophezeite ich damals. Ich sollte mich gewaltig irren!

2003 fand mit dem XtremeMan in der Rhön der erste OCR-Lauf Deutschlands statt, dem aber ohne soziale Medien und dem Hype des Internets bereits nach zwei Jahren die Puste ausging. Erst die unglaublich erfolgreiche Premiere des Fisherman’s Friend StrongmanRun im Februar 2007 auf dem Truppenübungsplatz der Lützow-Kaserne in Münster löste einen unaufhaltsamen Boom aus und avancierte zur Mutter aller Hindernisläufe in Deutschland.

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Kassenschlager OCR

Neue Veranstaltungen in der Kategorie Hindernis-, Schlamm- und Sumpfrennen schossen in den folgenden Jahren förmlich aus dem Boden! Zu Tausenden wälzten sich plötzlich Athletinnen und Athleten aller Altersklassen durch Schlamm, Dreck, kaltes Wasser, über abenteuerlichste Hindernisse und hatten eine „Mordsgaudi“ dabei. Die Medien kamen in Scharen, denn sie hatten das, was sie wollten: Blut, Schweiß und Tränen. Für die Profifotografen war es ein Fest, denn die Motive von Schlamm-verkrusteten Zombies fanden reißenden Absatz. Zuschauende und Fans strömten zu Tausenden zu dieser neuen Art von Volksbelustigung.

Sich in Fantasiekostümen und wilder Bemalung mit Brunftschreien animalisch durch den Dreck zu wühlen, weckt anscheinend Urinstinkte in unseren degenerierten und abenteuerarmen westlichen Gesellschaften. Eine echte Marktlücke, die es zu erschließen galt. Und das Kuriose dabei: Obwohl die Streckendesigner und -designerinnen, bei denen es sich ausnahmslos um ausgebuffte Berufssadisten und -sadistinnen handeln muss, von Jahr zu Jahr die Kurse länger, die Hindernisse schwerer und die Wassergräben hinterhältiger gestalteten, nahm die Anzahl der Teilnehmenden zu. Viele Veranstaltungen waren schon lange vor dem Start ausverkauft.

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Je wilder das Event, desto besser die Geschichte

Der Effekt ist einfach zu erklären: Je schlimmer das Event, umso wilder die Geschichten, Gerüchte und Legenden von Heldentaten, Nahtoderlebnissen, Schockfrostungen, unbezwingbaren Wällen, Gräben und Dschungelpfaden etc. Bei gelangweilten Ironmännern und -frauen, Marathon- und Volksläufern sowie -läuferinnen trafen die Erzählungen und reißerischen Berichte in den Medien auf fruchtbaren Boden. Die wollten das auch einmal am eigenen Leib erfahren. Neben der Abwechslung, eine völlig neue Herausforderung, bei der man mal so richtig die Sau rauslassen kann.

Raus aus der Komfortzone hieß die Devise. Für zarte Gemüter die keinen Sinn für den derben Humor, das raue Vokabular und auch den teilweise militärischen Touch dieser Szene haben, oder mehr auf Zeiten, exakt vermessene Distanzen und Platzierungen fokussiert sind, waren diese Events weniger geeignet. Obwohl diese Disziplin als anspruchsvolles Ganzkörpertraining sportlich äußerst wertvoll ist: Hier werden koordinative und technische Fähigkeiten und nicht zuletzt das Hirn gefordert. Strategisch intelligentes Verhalten, mentale Stärke und Kältemanagement tragen wesentlich zum Erfolg bei. Sozusagen athletisches Multitasking.

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Deutsche laufen an die Spitze

Neben dem StrongmanRun (mittlerweile eine Serie in mehreren Ländern) etablierten sich Braveheart Battle im fränkischen Münnerstadt, seit ein paar Jahren in Steinach/Thüringen stattfindend, und Gettingtough – The Race im thüringischen Rudolstadt zu Marktführern in Deutschland.

Schon bald drangen deutsche Topsportler und -sportlerinnen an die Spitze vor: 2011 gewann mit dem Göttinger Medizinstudenten Knut Höhler erstmals ein Ausländer den Tough Guy, 2013 gelang dies Friederike Feil aus Tübingen, Tochter des Ernährungswissenschaftlers Wolfgang Feil, bei den Frauen.

Deutschland wurde zum Sprungbrett für die angrenzenden Länder. Als Pioniere traten z. B. ab 2010 der StrongmanRun und dann 2013 der Survival Run Thun in der Schweiz oder der La Déjantée und The Mud Day (13.000 Teilnehmer bei der Premiere 2013!) in Frankreich auf. Nationale und weltweite Serien mit mehreren Austragungsorten wurden gegründet – Lake Run, Strong Viking, Xletix Challenge, Tough Mudder sind hier beispielgebend zu nennen.

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Spartan Races mit weltweitem Ranking

Spartanrace als weltweit größte Serie für Hindernisläufe verfügt sogar über ein globales Ranking und bietet seinen Teilnehmenden somit die Möglichkeit, sich mit der ganzen Welt zu messen. Für die Extremisten unter den Extremisten entstand „The World‘s Toughest Mudder“, ein 24-Stunden-Hindernisslauf an einem Stausee in der Wüste von Las Vegas.

Wie in anderen Sportarten wurden auch die OCR-Rennen volkslauftauglich: Es entstanden kürzere und leichtere Kurse (oft als Short Tracks bezeichnet) für Anfänger und Anfängerinnen oder als Ergänzung im Rahmenprogramm der großen Wettkämpfe, Sommerevents, Frauenläufe, Teamveranstaltungen, urbane Hindernisläufe wie der Urbanathlon in Hamburg, ja sogar Kinderrennen. Und seien wir mal ehrlich: Haben wir nicht alle in unseren jungen Jahren einmal das Bedürfnis verspürt, so richtig animalisch im Dreck zu wühlen? Für so manche wird durch die OCR-Rennen ein Kindheitstraum (oder vielleicht sogar ein Urinstinkt?) wahr.

Die Zahl der Veranstaltungen ist mittlerweile unüberschaubar. Viele, vor allem professionelle Veranstaltungsagenturen, sind auf den boomenden Zug aufgesprungen. Der Trend ist derzeit leicht rückläufig, die Auswirkungen der Pandemie haben den Prozess noch weiter beschleunigt. Bleibt abzuwarten, wie die Szene diese Krise mit all ihren Verwerfungen übersteht. Zu wünschen ist es – für alle, die sich mal so richtig dreckig machen wollen!