Anja Scherl: „Freizeitläuferin“ mit Olympia-Chance

| Martin Neumann I Foto: Andreas Schwarz
Trotz 40-Stunden-Job hat Anja Scherl nach ihrem 71:17-min-Halbmarathon plötzlich die Chance auf den Olympiastart. Deutschlands schnellste „Freizeitläuf

Franziska Reng (72:33 min) und Anja Scherl (beide LG Telis Finanz Regensburg; 71:17 min) sorgten beim Halbmarathon in Barcelona (Spanien) am 14. Februar für Furore. Für Anja Scherl rückt damit nicht nur ihr erster Start im Nationaltrikot bei der EM in Amsterdam (Niederlande; 6. bis 10. Juli) in Reichweite, sondern sie ist plötzlich auch Anwärterin auf ein Olympia-Ticket im Marathon - und das trotz 40-Stunden-Job.

Unter der Woche ist für Anja Scherl (LG Telis Finanz Regensburg) die Nacht um 5:30 Uhr vorbei. Dann klingelt erbarmungslos der Wecker. Zwei Stunden später sitzt die die 30-Jährige nach knapp sechzigminütiger Bahnfahrt von Bayreuth nach Nürnberg in ihrem Büro bei der Datev. Dort arbeitet sie als Software-Entwicklerin. Nach Feierabend zurück zum Bahnhof und in den Zug gen Bayreuth.

Klappt alles, ist die Langsstrecklerin gegen 18 Uhr zu Hause. Doch anstatt auf die gemütliche Couch geht’s für Anja Scherl in die Laufschuhe. Schließlich zählt sie – besser bekannt unter ihrem Mädchennamen Schneider – zu Deutschlands besten Straßenläuferinnen und hat völlig unerwartet eine berechtigte Chance auf einen Olympia-Start im Sommer in Rio (Brasilien; 12. bis 21. August).

Valentinstag 2016 verändert die Perspektive

Es war der frühe Vormittag des 14. Februar, der Anja Scherls Karriere eine ganz neue, unverhoffte Wendung verlieh. Beim Halbmarathon in Barcelona lief die 30-Jährige in einem Weltklasse-Feld in 71:17 Minuten auf Platz vier. Nur elf deutsche Langstrecklerinnen waren jemals schneller, in den vergangenen zehn Jahren lediglich Sabrina Mockenhaupt (LG Sieg; 68:45 min) und die deutsche Marathon-Rekordlerin Irina Mikitenko (68:51 min).

Damit unterbot die Fränkin die Norm für den Halbmarathon-Start bei den Europameisterschaften Anfang Juli in Amsterdam gleich um 103 Sekunden. „Mein Ziel war es, deutlich unter der Vorgabe zu bleiben. Schließlich können einige deutsche Läuferinnen diese Zeit laufen“, sagt Anja Scherl. Die EM war ihr „Traumziel“. Als sie 2014 den EM-Marathon in Zürich während einer Trainingseinheit auf dem Laufband im Fernsehen verfolgte, reifte ein Plan: „Einmal das Nationaltrikot tragen, das wäre doch was“, blickt sie auf den 16. August 2014 zurück.

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Erstes Bahnrennen mit 21 Jahren

Bleibt Anja Scherl gesund, dürfte ihr 23 Monate später der erträumte EM-Start nicht mehr zu nehmen sein. Es wäre die Premiere im Nationaltrikot für die Spätstarterin. Ihr erstes Bahnrennen bestritt die EDV-Spezialistin im Alter von 21 Jahren. Nach den Jugendklassen hören viele talentierte Leichtathleten auf, weil der Beruf vorgeht oder sie erkennen, dass es nicht für die absolute Spitze reicht. Bei Anja Scherl lief es genau andersherum.

„Schuld“ daran ist ihr Mann. Marco Scherl ist selbst begeisterter Läufer, finishte den Marathon unter drei Stunden und gab die Lust am Laufen an seine spätere Frau weiter. Die offenbarte ungeahntes Talent und ist zu Deutschlands „schnellster Freizeitläuferin“ aufgestiegen. „Für mich ist das kein Schimpfwort. Sport ist und bleibt ein Hobby für mich. Profi, das wäre nichts für mich“, stellt sie klar.

Gute Erinnerungen an Hamburg

Über die Mittelstrecken mit Teilnahmen an DM-Finals kam sie unter Anleitung ihres Mannes auf die längere Distanzen, finishte 2014 in Hamburg ihren ersten Marathon nach 2:48:13 Stunden und steigerte sich vergangenes Jahr an selber Stelle deutlich. Nach 2:36:31 Stunden lief sie am 26. April 2015 mit einem glücklichen Lächeln und einem negativen Split ins Ziel.

Am 17. April 2016 heißt es erneut: Hamburg. Dann will Anja Scherl als „Freizeitläuferin“ das scheinbar Unmögliche schaffen: die Qualifikation für die Olympischen Spiele. Nach der Senkung der Rio-Norm um zwei Minuten auf 2:30:30 Stunden muss sie sich immer noch um sechs Minuten steigern. Doch darf man nicht vergessen: Als die 30-Jährige 2:36:31 Stunden lief, lag ihre Halbmarathon-Bestzeit lediglich bei 74:58 Minuten. Rechnerisch scheint die Olympia-Norm also möglich zu sein. Wobei auf 42,195 Kilometern viel zu viel passieren kann, als dass im Vorfeld zu viel gerechnet werden sollte. Schließlich spielt ab Kilometer 30 die Energiebereitstellung eine wesentliche Rolle. Im Halbmarathon ist diese noch kein entscheidender Parameter.

Einmalige Chance

Bisher haben in Deutschland erst die Zwillinge Lisa (2:28:39 h)und Anna Hahner (beide Run2sky.com; 2:30:19 h) die Marathon-Norm für Rio unterboten. Beide sind Profis, genauso wie Fate Tola (LG Braunschweig; 2:28:24 h). Wird ihr Einbürgerungsverfahren in den kommenden Monaten erfolgreich abgeschlossen, muss Anja Scherl die Zeit von Anna Hahner toppen, um die Olympia-Chance zu wahren. „So eine Gelegenheit bekomme ich nie wieder, darum werde ich es auf jeden Fall probieren“, sagt die Bayerin.

Bürokratische Hürden stehen jedenfalls nicht mehr im Weg. Nach Barcelona wurde Anja Scherl umgehend in den für einen Olympia-Start obligatorischen Anti-Doping-Testpool aufgenommen. „Darum hat sich Bundestrainerin Katrin Dörre-Heinig sofort gekümmert“, sagt die 30-Jährige. Nun heißt es: das Training Richtung Marathon optimieren. Und das lief in den vergangenen Wochen nicht so wie gewünscht. „Ich hatte mir nach Barcelona eine Erkältung eingefangen. Darum konnte ich nicht trainieren wie geplant“, sagt die 30-Jährige.

Breites Ausdauer-Fundament

Doch Anja Scherl kann auf ein solides Fundament bauen. Schon das Halbmarathon-Training ihres Mannes und Coaches war ausdauerorientiert angelegt. Bis zu 34 Kilometer lief sie in der Barcelona-Vorbereitung im Training. „Für mich ist die Konstellation mit Marco als Trainer optimal. Er kennt mich in- und auswendig und kann das Training kurzfristig anpassen“, sagt die Bayreutherin. Im Oster-Trainingslager sollen die längsten Läufe noch um ein paar Kilometer ausgebaut werden – genauso wie die wöchentliche Anzahl von normalerweise sieben Trainingseinheiten.

Anja Scherl wird in den kommenden Wochen auf dem Weg zum Hamburg-Marathon alles dafür tun, dass am 14. August ihr Wecker wie gewohnt um 5:30 Uhr klingelt. Falls sie denn in dieser Nacht eine Auge zumacht. Denn vier Stunden später fällt der Startschuss zum olympischen Marathon in Rio. Und vor dem möglicherweise größten Rennen des Lebens sollte der Kreislauf schon ein bisschen auf Touren gebracht werden.