Ida-Sophie Hegemann
© The North Face

Trailrunning
Ida-Sophie Hegemann: Trotz Hundebiss zu Platz zwei beim ersten Hundertmeiler – Jetzt der UTMB

| von Christian Ermert

Was ihre Ergebnisse betrifft, ist Ida-Sophie Hegemann fast perfekt in die Trailsaison 2024 gestartet. Dabei hätte ein Hundebiss zu Beginn eines 170-Kilometer-Rennens in Kroatien fast alles zerstört.

Ein Bergdorf auf der Halbinsel Istrien an der kroatischen Mittelmeerküste. Viele Hunde laufen hier frei herum. Ob die gefährlich sind? Das weiß keiner so genau. Auch die Trailrunner nicht, die Anfang April auf den ersten Kilometern ihres 100 Meilen langen Rennens beim Istria 100 sind. Ida-Sophie Hegemann ist 90 Minuten unterwegs, als sie auf ihrem Weg vom mittelalterlichen Künstlerstädtchen Labin in die Berge Istriens die ersten Häuser des Dorfs erreicht. Da rennt einer der Hunde wutkläffend hinter ihr her. Er schnappt zu und erwischt die 27 Jahre alte Läuferin an der Ferse. „Ich war panisch, bin erstmal stehen geblieben und habe den Hund angeschrien“, erinnert sie sich. Ein anderer Läufer hat ihr dann geholfen und mit seinen Laufstöcken den Hund vertrieben.

Obwohl die Bisswunde an der Achillessehne blutete und noch mindestens 20 Stunden Trailrunning vor ihr lagen, kam Ida-Sophie Hegemann der Gedanke ans Aufgeben gar nicht. „Ich war mit einer guten Pace unterwegs und weit vorn. Da ist man im Tunnel“, beschreibt Ida-Sophie Hegemann ihre Situation. Und so ist sie einfach weitergelaufen. Ließ sich auch nicht von einem zweiten Zwischenfall aufhalten, der sie nach 45 Kilometern ereilte. Bei einem Downhill in der Nacht stürzte sie, fiel auf die Hand und brach sich zwei Knochen in der Mittelhand. Sie rappelte sich auf und lief wieder weiter. Einen Tag und eine Nacht zwischen den felsigen Buchten der Adriaküste und den bis zu 1400 Meter hohen Bergen Istriens. Nach 21 Stunden, 27 Minuten und 38 Sekunden hat sie ihr erstes 170 Kilometer langes Rennen gefinisht. Gleich auf Platz zwei bei den Frauen und auf Rang sieben in der Gesamtwertung.

Danach ging es erstmal zum Arzt. Tollwutimpfung. Bei streunenden Hunden weiß man nie, ob die nicht Träger des Virus sind. Und ist die Krankheit einmal beim Menschen ausgebrochen, endet sie fast immer tödlich. Deshalb musste sich Ida-Sophie Hegemann zwischen dem Rennen in Kroatien und dem nächsten geplanten Start Anfang Mai über 110 Kilometer beim Trailfestival in Innsbruck drei Spritzen verabreichen lassen. Die letzte nur wenige Tage vor dem Rennen in Tirols Hauptstadt, wo sie sie seit gut vier Jahren zu Hause ist. „Die dritte Impfung habe ich nicht gut vertragen. Ich dachte schon, absagen zu müssen.“ Und das ausgerechnet bei dem Rennen in den Bergen, die ihr Trainingsrevier sind. Doch kurz vor dem Start fühlte sie sich wieder gut, trat an und gewann trotz Mittelhandbruchs das schwere Rennen über 110 Kilometer in neuer Streckenrekordzeit von 12:23:29 Stunden und lief dabei sogar auf einen dritten Platz im Gesamtklassement.

So ganz nebenbei erzählt sie dann auch noch von einem Sturz bei einem Rennen auf Gran Canaria im Februar. Dabei hatte sie sich eine Rippe gebrochen. „Danach konnte ich erst gar nicht laufen und dann nur flach, um die Rippe nicht zu belasten“, berichtet sie von der Vorbereitung auf ihren ersten 170 Kilometer langen Lauf in Istrien. Mit Rucksack ist sie nur einmal gelaufen vor dem Rennen, bei dem alle Teilnehmenden eine umfangreiche Pflichtausrüstung auf dem Rücken tragen müssen. Aber Ida-Sophie Hegemann ist eben eine große Kämpferin.

Nach Starts bei einem Etappenrennen in den US-amerikanischen Rocky Mountains und dem deutschen Trail-Highlight, dem 86 Kilometer langen Zugspitz-Ultratrail, peilt sie Ende August mit dem 170 Kilometer Ultratrail am Mont Blanc das Nonplusultra im Trailrunning an. Damit soll ihre Karriere am höchsten Berg der Alpen einen vorläufigen Höhepunkt erreichen.

Ida-Sophie Hegemanns Welt sind die Berge
© The North Face

Ida-Sophie Hegemann zog es vom flachen Niedersachsen in die ganz hohen Berge

Begonnen hat das alles auf dem eher flachen Land des Eichsfeld: Im niedersächsischen Duderstadt hat Ida-Sophie Hegemann mit dem Laufen begonnen. Der Harz und das thüringische Ohmgebirge sind im Südzipfel Niedersachsens zwar nicht weit weg, aber richtige Berge gibt’s rund um das 20.000-Einwohnerstädtchen nicht. Noch flacher wurde es dann, als sie ins Sportinternat nach Hannover gezogen ist. Mit 14 Jahren hatte sie die Chance, am Olympiastützpunkt zu trainieren. Nach guten Leistungen in der Schulzeit wollte sich die heute 27-Jährige, die vier jüngere Geschwister hat, dort zu einer Bahn- und Straßenläuferinnen von internationalem Format entwickeln. Zusammen mit Lea Meyer, die vor zwei Jahren eine umjubelte Silbermedaille über 3000 Meter Hindernis bei den Leichtathletik-Europameisterschaften in München gewann.

Der Plan vom Leistungssprung im Internat ging für beide nicht auf. Verletzungen bremsten die Talente, so dass sie erst auf Umwegen ihr Laufglück fanden. Während Lea Meyer über Jahre in Köln zu einer Weltklasse-Hindernisläuferin reifte, war für Ida-Sophie Hegemann ein Berglauf in Thüringen Initialzündung zu einer neuen Karriere in den Bergen. Nach mehreren Ermüdungsbrüchen und einem langwierigen Pfeifferschen Drüsenfieber war sie schon kurz davor, ihre Laufkarriere zu beenden. Doch dann dieser Halbmarathon mit 500 Höhenmetern in Thüringen. „Heute würde ich das nicht mal mehr als Berglauf bezeichnen, aber ich habe gewonnen und war schneller als der erste Mann.“ Das fiel auf in der Szene, sie wurde zum Trans Alpine Run eingeladen, lieferte beim Etappenrennen über die Alpen eine gute Leistung ab und fand sich plötzlich in einem professionellen Trailrunning-Team wieder. Ihr erster richtiger Soloauftritt war dann die Marathondistanz beim Zugspitz-Ultratrail 2018, die sie auf Anhieb gewann. Seitdem ist sie eine feste Größe in der Szene.

Ida-Sophie Hegemann auf dem Weg zum Start beim UTMB
© Mathis Dumas

Der Traum: Irgendwann beim UTMB aufs Podium laufen oder sogar gewinnen

Und jetzt ist sie auf dem Weg zum Start auf der ganz langen Distanz beim Ultratrail du Mont Blanc. 171 Kilometer rund um den höchsten Berg Europas. Mit Start und Ziel in Chamonix, dem französischen Trailrunning-Mekka. In der letzten Augustwoche versammelt sich die komplette Szene am Fuß des Mont Blanc. Sechs Tage lang wird das große Finale der UTMB World Series mit den verschiedenen Rennen gefeiert. Bevor dann am Freitagabend um 18:00 Uhr das wohl wichtigste Ultratrailrennen des Jahres gestartet wird. Zu den 171 Kilometern kommen 10.000 Höhenmeter im Aufstieg. Die Schnellsten werden am Samstagnachmittag gegen 15:00 Uhr wieder in Chamonix erwartet. Nachdem sie eine ganze Nacht und einen halben Tag durchs Hochgebirge gelaufen sind. 21 Stunden. So lange brauchen die schnellsten Männer. Ida-Sophie Hegemann wird noch länger unterwegs sein.

Sie hat eine Rechnung mit dem Rennen offen. Im vergangenen Jahr ist sie trotz Magen-Darm-Problemen im Vorfeld angetreten. Und hat gelernt, dass sich solch eine Herausforderung nicht bewältigen lässt, ohne im Vollbesitz ihrer Kräfte zu sein. Sie musste aufgeben. Damit trat ein, was sie schon vor ihrem ersten Start geahnt hatte. „Irgendwann will ich beim UTMB mal aufs Podium oder sogar gewinnen“, sagte Ida-Sophie Hegemann damals, „aber vorher muss man bei diesem Rennen unglaublich viel Scheitern und daraus lernen.“

Ida-Sophie Hegemanns liebt das Laufen in der Natur

Im Alleingang zu den schnellsten Zeiten überhaupt auf klassischen Bergrouten

Wie bereitet man sich auf so etwas vor? Das dauert auf jeden Fall Jahre. Für Ida-Sophie Hegemann ist auch ein Sololauf wichtig, den sie im vergangenen Sommer absolviert hat. „FKT“ steht im Trailrunning-Jargon für „Fastest Known Time“. Damit ist gemeint, dass jemand allein eine vorher festgelegte Strecke in den Bergen schneller als alle anderen vor ihm läuft. Beliebt sind hochalpine Wege, für die Wanderer in den Alpen mehrere Tage mit Hüttenübernachtungen benötigen.

Wie der Karwendel-Höhenweg, der auf der dazugehörigen Webseite so beschrieben wird: „Sechs Tage zu Fuß im größten Naturpark Österreichs unterwegs sein. Das ist weit mehr als nur um die 70 Kilometer in den Alpen hinter sich zu bringen. Der Karwendel-Höhenweg bedeutet, das Karwendel von den Tallagen bis in die Gipfelregionen in einer sehr anspruchsvollen Mehrtagestour zu entdecken, auf fünf ausgezeichneten Hütten zu übernachten und bei jedem aufmerksamen Schritt die alpine Bergnatur in Tirol kennenzulernen. Es handelt sich dabei um einen Bergweg in der Kategorie schwarz, bei dem auch Klettersteigpassagen zu bewältigen sind.“ Also alles andere als Spaziergänge.

Und was macht Ida-Sophie Hegemann? Die rennt das am Stück in weniger als elf Stunden. In 10:42 Stunden, um genau zu sein. „Es war hart, sehr hart, die Kletterpassagen haben mir den Stecker gezogen. Die letzten 20 Kilometer konnte man gut laufen. Aber ich war vollkommen fertig“, blickt sie zurück auf das Unterfangen, an das sich vor ihr noch keine Frau gewagt hatte. Um 3:40 Uhr morgens war sie in Reith bei Seefeld gestartet. Nach 5000 Höhenmetern im Aufstieg und 4000 im Abstieg durch eine der unberührtesten Naturlandschaften in Österreich an der Grenze zu Bayern war sie kurz vor drei Uhr nachmittags am Ziel in Scharnitz angekommen.

„Das war eine gute Vorbereitung auf Rennen wie den UTMB oder auch den Hundertmeiler in Istrien, weil man dabei lernt, sich immer wieder selbst herauszufordern und zu pushen. Man läuft die ganze Zeit allein. Diese mentale Komponente ist herausfordernd, niemand sonst läuft ein Rennen.“ Um das Ganze als Wettkampf zu empfinden, hat sie sich Zwischenzeiten auf den Unterarm geschrieben, nach denen sie Wegpunkte erreicht haben wollte. Mit Wasser und Essen versorgt wurde sie von einem Team ihres Ausrüsters The North Face, der auch einen Film über ihr Unternehmen FKT im Karwendel gedreht hat.

Diese FKT zu besitzen, ist Ida-Sophie Hegemann besonders wichtig, weil das Karwendelgebirge genau zwischen ihrer neuen Heimat Innsbruck und Deutschland liegt. Und es war trotz aller Härte ein einzigartiges Naturerlebnis: „Ich habe Riesenscharen von Gämsen gesehen, bestimmt 300 Stück.“ Trotzdem: Rennen wie der UTMB oder der Istria 100 sind ja noch einmal hundert Kilometer länger. Wie geht man damit um? „Im Training laufe ich oft acht, neun Stunden in den Bergen, ohne danach zu schauen, wie viele Kilometer das sind. Dazu mache ich jede Woche zwei Intervalleinheiten, eine im flachen und eine am Berg. Auch als Trailläuferin lernt man schnelles Laufen nur, wenn man schnell läuft. Meine langen Dauerläufe im Flachen sind nie länger als 35 Kilometer“, beschreibt sie ihr Training.

  • Fotos: Roast Media

Aber das ist ja alles immer noch weit entfernt von jenen 170 Kilometern, die beim UTMB zu bewältigen sind? „Das ist vor allem eine mentale Herausforderung. Du musst das Rennen in Päckchen aufteilen. Anders geht es nicht. Ich denke ich immer nur an die nächsten 25 Kilometer. Du kannst dir ja nicht nach einem Kilometer sagen, jetzt sind es nur noch 169 …“

Und dann gibt sie zu, dass zum Ultratrail auch für Top-Athletinnen lange Phasen des Leidens gehören: „Manchmal muss man durch Passagen, die so steil und schwierig sind, dass man für einen Kilometer fast 20 Minuten braucht. Dann denkt man: Boah, das ist ja schrecklich. Oder man hat Krämpfe und muss noch weit laufen. Aber dann nach 50 oder 60 Kilometern kommen auch wieder Streckenabschnitte, auf denen man Glücksgefühle hat und glaubt zu fliegen. Das macht Ultratrailrunning aus. Es ist ein Auf und Ab für den Kopf, für die Emotionen und den Körper. Das verbindet alle, die das machen.“

Mit der Länge der Strecken kann Ida-Sophie Hegemann schon lange gut umgehen. Ihr Problem waren die steilen Downhill-Passagen. Um die zu üben und mit der Weltklasse mithalten zu können, ist sie Anfang 2020 nach Innsbruck gezogen. Hier kann sie das Training im Hochgebirge perfekt mit ihrem Architekturstudium verbinden. Und hier hat sie auch ihren Freund kennengelernt, der von einer Alm in Südtirol stammt und auch viel auf den Trails unterwegs ist. „Bergab ist er viel schneller als ich. Wir trainieren auch zusammen und im Wettkampf trage ich immer eine Kette, die er mir geschenkt hat. Manchmal berühre ich die kurz, bevor ich in steile Downhills gehe“, sagt Ida-Sophie Hegemann, die seit Mitte 2023 von einem der besten Trailrunner der Welt, dem in Norwegen lebenden Briten Jonathan Albon, trainiert wird.

Ida-Sophie Hegemann: Finde es super cool, an neuen Schuhmodellen mitarbeiten zu können

Möglich macht das alles aber vor allem ihr Sponsor: Bei The North Face gibt es eines der Profiteams, ohne die Trailrunning als Hochleistungssport kaum möglich wäre. Das Zentrum des Teams ist im französischen Annecy. Nur wenige Kilometer von Chamonix und dem Mont Blanc entfernt, stehen den The North Face-Athletinnen und -Athleten zwei High-Tech-Institutionen zur Verfügung, um Training und Ausrüstung zu optimieren: Bei All Triangles werden die Schuhe entwickelt, mit denen die unfassbaren Leistungen von Ida-Sophie Hegemann und Co. erst möglich werden. Und bei 3,2,1 Perfomance können sie nach harten Einheiten im Eisbad regenerieren und daneben auch an allen Fähigkeiten feilen, die sich in der Natur nicht so gut trainieren lassen. Leistungsdiagnostik auf allen Ebenen und spezielle Trainingsgeräte für Kraft und Reaktionsfähigkeit stehen in einer zum hypermodernen Sportstudio umgebauten alten Kirche zur Verfügung.

Ida-Sophie Hegemann schwärmt vor allem von der Kooperation mit dem von Julien Traverse gegründeten Labors All Triangles, wo The North Face alle seine Trailschuhe konzipieren und designen lässt, bevor die Serienproduktion in Asien startet. Sie findet es „super cool“, nach Annecy fahren zu können und in persönlichen Gesprächen mit dem Gründer und den anderen Designern Feedback zu den Schuhen geben zu können, das dann in neue Modelle einfließt. Bei ihrem FKT hat sie 2023 einen Prototyp getragen, der dieses Jahr noch auf den Markt kommen wird und besonders für sehr technisches Gelände geeignet ist. Bei ihren beiden erfolgreichen Rennen in Istrien und Innsbruck 2024 war es der neue Carbontrailschuh Summit Vectiv Pro 2, der sie erfolgreich ins Ziel trug. „Der Schuh macht einen extremen Unterschied aus“, schwärmt sie, „früher konnte ich mich nach so langen Rennen eine Woche lang fast nicht bewegen. Seitdem ich die neuen Schuhe trage, regeneriere ich viel schneller.“ Und damit will sie ihre Erfolgsbilanz 2024 weiter ausbauen. Hoffentlich ohne weitere unliebsame Hundebekanntschaften.