„The Hemisphere Crossing“
Lauf-Erlebnis auf den Trails der Atlantikinsel São Tomé

| Text: Rafael Fuchsgruber | Fotos: Global Limits, Armin Schirmaier, Rafael Fuchsgruber

Mehr als 200 Kilometer laufen in sechs Etappen auf Single Trails durch Tropenwälder und Plantagen sowie auf einsamen Betonpisten. „The Hemisphere Crossing“ auf São Tomé ist ein Abenteuer und Erlebnis!

Ich bin ganz froh, dass ich noch mit dem Dschungelbuch groß geworden bin und nicht mit dem Dschungelcamp. Das hilft auf jeden Fall bei einem 200 Kilometerlauf im Dschungel auf einer Vulkaninsel!

Es ist gar nicht so leicht auf die Insel São Tomé zu kommen. Von Lissabon geht es über Ghana auf dieses Eiland, das im Atlantik rund 200 Kilometer westlich der Küste Gabuns vor Afrika liegt. Sogar manch einer im Reisebüro kennt die Insel nicht. Dabei gibt es hier etwas ganz Einmaliges, was dem Rennen auch seinen Namen gibt: Die Äquatorlinie und der Null Meridian – also die Verbindungslinie vom Nord- zum Südpol – kreuzen sich auf São Tomé. Es gibt viele schöne Flecken auf der Erde, aber meine große Liebe ist Afrika. Und ich liebe es, immer wieder neue Länder auf diesem Kontinent zu erkunden.

Als sich die Türen des Fliegers öffnen, hat es gepflegte 30 Grad und die Luftfeuchtigkeit ist so hoch, dass später im Rennen die nassen Laufsachen über Nacht kaum trocken zu kriegen sind. Der Besuch vom Tropenhaus im Kölner Zoo im Winter ist ein Scherz dagegen.

Sechs Tage Wettkampf stehen an. Bei den Männern ist die Lage im Vorfeld relativ eindeutig. Nathan Montague war viele Jahre im Nationalteam der Trailläufer Großbritanniens und startete erfolgreich bei Weltmeisterschaften. Ein ganz feiner Kerl, der immer mit allen im Gespräch ist. Schwer einzuschätzen sind die einheimischen Jungs wie Duliê Fontes oder Kinderly Batista. Die kennen das Klima, den Dschungel und die ewigen Hügel auf der Insel. Tatsächlich geht es sich am Ende in dieser Reihenfolge bei den Männern aus. Nathan gewinnt zügig aber entspannt und Duliê und Kinderly folgen auf den Plätzen. Bester Deutscher wird am Ende Sascha Gramm aus Hosenfeld bei Fulda auf Platz sechs.

Bei den Frauen geht es enger zu. Harriet Washington (34), eine Läuferin aus Großbritannien, die in Kambodscha lebt, Tanja Schönenborn (40) aus Hennef und Christina Khinast (53) aus Österreich werden die Plätze auf dem Podest unter sich ausmachen – aber erst am Ende. Der Plan war, dass ich Tanja so lange wie möglich begleite. Aber mein Terrain ist eher die Wüste, die vielen Berge mit 6000 zu laufenden Höhenmetern auf São Tomé sind nicht mein Gelände.

São Tomé und Principe

São Tomé und Príncipe liegt im Golf von Guinea, circa 200 Kilometer vor der Küste Afrikas westlich vor Äquatorialguinea und Gabun. Auf einer Fläche von 1.001 km² leben gut 210.000 Einwohner. Flugverbindungen zum Aeroporto International de São Tomé gibt es mit TAP Air Portugal von Lissabon mit Zwischenstopp in Accra (Ghana) oder mit TAAG Angola Airlines via Luanda. Beste Reisezeit sind die beiden Trockenperioden zwischen Juni und September sowie Dezember und Februar. Mehr Infos zu „The Hemisphere Crossing“ sowie anderen Läufen von Global Limits gibt es hier:

Partytime schon vor dem Start

Nach dem obligatorischen Briefing geht es gleich in die Berge. Es ist Samstagabend und zu unserer aller „Freude“ ist für die Dorfjugend „Partytime“ angesagt. Es gab vorab die Info, Ohrstöpsel mitzubringen. Wir dachten erst wegen der Moskitos oder gegen schnarchende Mitbewohner, aber der wahre Grund waren die hämmernden Beats aus den Lautsprechern der angrenzenden Disko.

Als diese gegen zwei Uhr nachts nachlassen, werden sie ersetzt durch das Geheul und Bellen der einheimischen Hundegangs. Klingt ein wenig nach offenem Straßenkampf.

Aus der Höhe runter ans Meer

33 Laufabenteurer stehen an der Startlinie bei der größten Plantage der Insel. Der Sport- und Jugendminister von São Tomé, Vinicio Pina, wünscht allen Glück und die Kinder der angrenzenden Schule singen herzallerliebst die Nationalhymne des kleines Inselstaates.

Der erste Tag ist noch relativ flach und erstmal geht es darum, das vor uns liegende Kopfsteinpflaster unfallfrei zu überleben. Bei dieser Luftfeuchtigkeit und über 30 Grad zügig zu laufen, ist nicht leicht. Wir rennen gottseidank nur mit leichten Rucksäcken für Wasser und Regensachen. Der Rest wird durch den Veranstalter von Camp zu Camp transportiert.

Im Sechser-Schnitt pro Kilometer ist der Puls trotzdem am Anschlag. Aus den Höhen kommen wir nochmal runter ans Meer. Es geht vorbei an gestrandeten Schiffwracks und nach zehn Kilometern erreichen wir den ersten Checkpoint.

Erster Sololauf für Tanja

Harri läuft durch. Tanja hat auch noch nix getrunken und folgt ihr. Dahinter Christina. Sie ist mit ihren 53 Jahren wahrlich eine „Maschine“ (mit Herz) und zieht bald von dannen. Dass Tanja jetzt schon außer Sicht ist, ist kein Problem. Ich hatte kurz vorher beschlossen meinen Plan B zu ziehen. Der heißt: Genießen.

Wann kommt man schon mal nach São Tomé? Die letzten Rennen in der Mongolei, der Sahara und in Chile liefen wir gemeinsam und unser 1000-Kilometer-Projekt in Namibia sowieso. Tanja trainiert erst seit vier Jahren ernsthaft und jetzt ist die Zeit für ihren ersten Sololauf gekommen.

Unterwegs trifft sie auf Sascha Gramm, dem Tempo und Klima ziemlich zugesetzt haben. Ihm geht es nicht gut und er berichtet, dass er sich hinlegen musste. Tanja bleibt bei ihm, bis er wieder weiter kann und versucht danach zu Harri und Christina aufzuschließen. Gelingt ihr und in dieser Reihenfolge laufen sie später ins Ziel.

Zweites Camp im Kindergarten

Ich habe einen wunderbaren Tag und mache hier und da einen kleinen Stopp. In einem Dorf am Kiosk, um eine Cola zu trinken und bei den Bananenpflückern unterwegs, um mehr über Land und Leute zu erfahren. Nicht so einfach, da die Landesprache Portugiesisch ist und ich nur die Worte für „Guten Tag, Bitte, Danke, Auf Wiedersehen“ kenne. Manchmal kann einer der Jungs ein paar Brocken Englisch; ansonsten gilt: Reden mit Händen, Füßen und einem Lächeln – das können wir doch alle weltweit.

Das Highlight des Tages: ein paar Kilometer vorm Ziel geht es durch einen Fluss. Ich sehe verschiedene Läufer, die große Anstrengungen unternehmen und von Stein zu Stein hüpfen, um bloß keine nassen Füße zu bekommen. Ich wähle ein für mich ganz neuartiges Konzept und lege mich in den Fluss. Ich schaue von unten in die riesigen Baumkronen und denke: „Ach wie schön.“ Chilliges Körperkühlen.

Ich bin irgendwo im Mittelfeld als Tanja im Ziel – dem örtlichen Kindergarten – auf mich wartet. Der Kindergarten ist unser zweites Camp. Die Kids haben alles auf- und zur Seite geräumt, so dass wir alle genügend Platz finden. Nachmittags gehen wir ins Dorf. Auf São Tomé wird auch heute noch Kaffee angebaut. Im Café eines Plantagenbetreibers lassen wir uns erklären, wie handgemachter biologischer Kaffeeanbau funktioniert und bekommen einen exquisiten Espresso. So hab‘ ich es gern.

Anfeuerung für die Läuferinnen und Läufer

Man muss sich das so vorstellen: Start ist wieder auf dem Kopfsteinpflaster des kleinen Dorfes. An diesen Straßen wurde, seitdem die Portugiesen das Land verlassen haben, nicht mehr viel gemacht. Dementsprechend wild ist der Belag. Hierzulande würden die Automobilhersteller das eher als Stoßdämpfer-Teststrecke nehmen und so gibt es gleich zu Beginn mehrere Stürze von Jungs, die neben mir laufen. Hans aus Österreich erwischt es so schlimm, dass er erstmal kräftig am Arm blutet. Er kann weitermachen und wird unterwegs vom Team „verarztet“.

Der Schwede Stefan Samulesson knickt um, liegt schreiend am Boden und ich bin mir fast sicher, dass seine Außenbänder durch sind. Nach einigen Minuten kann er humpelnd weitermarschieren. Am Tag danach läuft er wieder. Es ist ein wunderbares Rennen, aber man muss schon Erfahrung auf technischen Trails haben, wenn man schnell laufen will.

Langsam geht es besser. Ich schaffe es ja auch täglich ins Ziel. Wir kommen immer wieder durch kleine Dörfer. Die Menschen sind sehr freundlich. Das Land ist arm und die Dörfer und Hütten einfach. Aber trotzdem scheinen die Menschen zufrieden und es gibt überall ein herzliches Willkommen „Bom dia“ und „Forzza, Forzza“-Rufe, um die Läuferinnen und Läufer anzufeuern.

Nach der Etappe Erholung am See mit Wasserfall

Gefühlt geht es heute deutlich mehr bergab. Die drei Frauen an der Spitze haben unterschiedliche Talente. Harri ist eine junge starke Läuferin und hat das Klima auf ihrer Seite, da sie in Kambodscha unter ähnlichen Bedingungen lebt und trainiert. Christina ist zwar 20 Jahre älter hat dafür aber alle Erfahrungen vom Ironman bis hin zu dutzenden Ultraläufen im Gepäck. Tanja ist dagegen eher Rookie und hat irrsinnige Freude am Laufen, wie ein Kind, das hüpft. An manchen Tagen ein Mindset hart wie eine Betonwand und an anderen Tage durchlässig wie ein Seidenvorhang.

Obwohl der Kurs extrem gut markiert ist, verläuft sich Harri mal kurz. Tanja, nur wenige Meter hinter ihr, pfeift laut und bringt sie dadurch auf den rechten Weg zurück. Die vielen Kilometer bergab auf guten Wegen lassen Tanja Fahrt aufnehmen und es gelingt ihr der erste Sieg auf einer Tagesetappe, seit sie 2018 ihren ersten Ultralauf in der Mongolei startete. Harri und Christina kommen kurz nach ihr ins Ziel.

Unser Camp ist heute ein ehemaliges Gästehaus. Schön verfallen, aber noch nutzbar. Zur Feier des Tages wandern wir nachmittags zu einem Wasserfall mit kleinem See, um den Tagessieg zu feiern. Die Insel hat so viele Facetten, dass hier mühelos mehrere Abenteuerfilme gedreht werden könnten.

Ab in den Regenwald

Bald nach dem Start geht es in den Dschungel. Aber so richtig. Die Farbe Grün beruhigt und das ist in dem Moment gut für mich. Bin leicht genervt und denke immer wieder: „Der Dschungel hasst uns. Kein Wunder bei dem, was wir ihm angetan haben“. Kein gescheiter Weg – nur Trampelpfade. Keine Sicht weiter als fünf Meter. Lose mit Moos bewachsene feuchte Steine. Zwischendurch Morast und kleine Bäche! Konzentration ist gefragt. Viele Läufer mögen das, mir liegt das nicht so.

Ich bin mehr der Flow-Läufer – aber der stellt sich hier so gar nicht ein. Tanja läuft weiter vorn. Christina hat auch nicht so den großen Spaß, hier schnell zu laufen. Etwas später stürzt sie leider und verletzt sich am Knie, das später mit sechs Stichen genäht wird. Sie macht weiter – Chapeau! Aber sie kann die beiden führenden Frauen nun nicht mehr angreifen. Trotz Handicap wird sie ihren dritten Platz bis zum Ende des Rennens halten können.

Nach rund vier Kilometern ist das Ende des Regenwalds in Sicht und es geht im Flachen weiter. Ich treffe immer wieder Schulkinder auf dem Weg zu ihrem Unterricht. Halte an und wir machen Fotos. Die Kids sind neugierig, Touristen kennen sie kaum und mitten im Dschungel schon gar nicht. Das Camp ist heute in einem kleinen Fischerdorf direkt am Hafen. Die Terrasse eines ehemaligen Restaurants unser Diningroom. Wir sind zum ersten Mal in kleinen Zelten untergebracht. Die Nacht wird sehr warm.

Genießen mit Zeit

Es ist die längste Etappe heute. Es gibt einen so genannten „staggered start“. Die langsameren Läufer dürfen zuerst raus. Die anderen starten eine Stunde später. Wer den Dschungel liebt, kommt heute ganz auf seine Kosten. Krabbeln über kleine Felsen, über umgestürzte Bäume und – falls ich es noch nicht erwähnt habe – es geht bergauf und wieder bergab. Ich marschiere. In einer der langen Bergabpassagen im Wald habe ich dann mein Highlight des Tages.

Von hinten kommt Nathan, der Führende der Männerwertung, angerauscht. Ich mache ehrfurchtsvoll Platz und sehe wie er den Berg runterfliegt. Nach vorne gebeugt und mit hohem Tempo berühren seine Füße nur für Zehntelsekunden den Boden – also die meist losen Steine. So kommt er gar nicht erst ins Rutschen. Ich erinnere mich dunkel an die Vektorrechnung in Mathematik, aber das führt jetzt zu weit. Noch etwa atemlos vom Zuschauen denke ich mir: „Es gibt Dinge, die kann ich nicht.“

Im Flachen angekommen laufen wir an der Atlantikküste entlang. Ich kann Tempo aufnehmen und habe Spaß daran, mal etwas zügiger zu laufen. Hier und da sammele ich ein paar Läufer ein. Das macht mir auch mit 60 Jahren noch Spaß. An Checkpoint zwei warte ich auf Tanja. Alle fragen mich, ob alles gut sei. „Alles bestens!“, signalisiere ich. Sie fragen sich trotzdem: „Was hat er denn?“ Antwort: „Er hat Zeit.“

Camp direkt am Meer – kann es idyllischer sein!?

Als Tanja kommt, macht sie einen sehr glücklichen Eindruck. Sie hat kurz vorher für sich beschlossen, Tempo rauszunehmen, da Harri einfach die bessere Läuferin ist unter den Bedingungen auf São Tomé. Bergab ist Tanja wieder flotter als ich. Also nehme ich mir die Zeit, an einem Wasserfall Halt zu machen. Ein paar junge Einheimische springen vom knapp zehn Meter hohen Wasserfall runter in die Lagune. Es juckt in den alten Knochen. Die Jungs erklären mir, wo ich genau hinspringen muss, damit ich mir nichts breche. Dass ich mal mit 60 Jahren einen Wasserfall in Afrika runterspringe, hätte ich auch nicht gedacht. Weiter geht es danach durch endlose Palmenplantagen zu unserem Camp direkt am Strand: Praia Grande.

Es geht viel am Wasser entlang. Da kommt Urlaubsflair auf. Zwischendurch sehe ich ein paar Männer auf einer Terrasse. Sie spielen Backgammon und Schach. Ich setze mich und schau ein wenig zu. Wenig später treffe ich mitten im Wald einen alten Mann. Auf einem Auge ist er ganz blind und mit dem anderen sieht er auch sehr eingeschränkt. Ich setze mich zu ihm. Vielleicht mein schönster Moment bei diesem Lauf. Wir reden nicht. Eine sehr innige, freundliche Verabschiedung, denn wir wissen ja, dass wir uns wohl nie wiedersehen werden. Danach geht es quer über die Insel. Wir zelten direkt am Meer in der Bucht Praia Piscina, die bei den großen Meeresschildkröten sehr beliebt zur Eiablage ist.

Spaß auf der letzten Etappe

Auf der letzten Etappe habe ich zwei Ziele: Den letzten Tag genießen und nochmal sehen, was so geht. In der Gesamtwertung lagen zwei junge Läufer nur zehn Minuten vor mir. „Wenn ich heute nochmal Gas gebe, mache ich noch zwei Plätze gut“, denke ich. Tanja ist nur so halb begeistert. Sie hat keinen Grund zu rennen. Das Ranking der Damen ist klar, aber sie kommt mit. Später wird sie mich ein wenig verfluchen. Nach zehn Kilometern kommen wir unter den Ersten an den Booten an, die uns zur Insel Ilhéu das Rolas übersetzen werden.

Dieses kleine Eiland ist wirklich was Besonderes. Auch wegen einer Milliarde Kokosnüsse, die auf dem Geläuf liegen. Das ist mir heute egal. Es läuft bei mir. Tanja singt die ganze Zeit „Wer hat die Kokosnuss, wer hat die Kokosnuss geklaut ...“ Es ging mir nicht um die zwei Plätze. War nur der Spaß. Ich bin am Ende im Mittelfeld auf Platz 17 und Tanja ist glücklich mit dem zweiten Platz bei den Frauen. Es gibt – welch Überraschung - Kokosnuss im Ziel. Das Rennen und die Insel sind ein Traum, die Organisation perfekt. Man kann schnell rennen, muss aber nicht.

„Probier‘s mal mit Gemütlichkeit, mit Ruhe und Gemütlichkeit“, singt Balu im Dschungelbuch. Das war mein Motto. Großer Spaß. São Tomé ist eine Reise wert. Ich will da nochmal hin.