Olympia: Männer-Marathon mit deutschem Duo

| Anja Herrlitz, Jörg Wenig I Fotos: imago, Norbert Wilhelmi
Der Männer-Marathon ist traditionell die letzte Leichtathletik-Entscheidung bei den Olympischen Spielen. Wir stellen die Favoriten für das Rennen am Sonn

Der Männer-Marathon ist traditionell die letzte Leichtathletik-Entscheidung bei den Olympischen Spielen. Wir stellen die Favoriten für das Rennen am Sonntag (14:30 Uhr MESZ) vor und blicken auf die Chancen der beiden deutschen Starter Philipp Pflieger (Foto; rechts) und Julian Flügel (Foto; links).

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Bei einem olympischen Marathonrennen kann viel passieren. Favoritensiege, wie der des zwischenzeitlich verstorbenen Sammy Wanjiru (Kenia), der 2008 in Peking dominierte, sind selten. Vor vier Jahren triumphierte mit Stephen Kiprotich (Uganda) ein Läufer, den niemand auf der Rechnung hatte. Er wird am 21. August um 9.30 Uhr (Ortszeit; 14:30 Uhr MESZ) in Rio wieder antreten und gehört zu den sieben aussichtsreichen Athleten. Die Liste der Favoriten findest du unten.

Außerdem sind zwei deutsche Läufer im Rennen: Philipp Pflieger (LG Telis Finanz Regensburg) und Julian Flügel (Asics Team Memmert) wollen sich so teuer wie möglich verkaufen. Nicht dabei sind hingegen der deutsche Marathon-Rekordler Arne Gabius (LT Haspa Marathon Hamburg) und Hendrik Pfeiffer (TV Wattenscheid 01). Beide waren schon nominierrt, mussten aber verletzt passen. Dadurch rückte Julian Flügel nach.

Philipp Pfliegers Weg zum Start bei Olympia war ein steiniger. Hochs folgten immer wieder Tiefs. Erfolge in der Jugend, dann 2011 verletzt, danach ging es wieder bergauf. 2014 wagte er sich in Frankfurt erstmals auf die Marathonstrecke, lief dort ein gutes Rennen – und kolabierte nach 35 Kilometern. 2015 stellte er mit 63:51 Minuten eine neue Halbmarathon-Bestzeit auf. Ende September dann der nächste Marathon-Versuch, der in Berlin nach 2:12:50 Stunden und diesmal im Ziel endete. Nur der deutsche Marathonrekordler Arne Gabius war seit dem Jahr 2000 in Deutschland schneller. Ein bombiges Rennen – aber trotzdem zu langsam für Olympia!

Zu diesem Zeitpunkt lag die Norm für einen Olympiastart noch bei 2:12:15 Stunden. Mickrige 35 Sekunden war Pflieger zu langsam. Nicht einmal eine Sekunde pro Kilometer! Dazu ein weiteres Problem: „Als ich nach meiner Regenerationsphase wieder mit leichtem Training begonnen habe, habe ich ziemlich schnell gemerkt, dass mein rechtes Sprunggelenk nicht richtig belastbar ist. Nach eingehenden Untersuchungen stellte sich heraus, dass eine Stressreaktion vorlag.“

Doch auch hier ging der Weg aus dem Tief wieder heraus: Die Norm wurde auf 2:14:00 Stunden gesenkt, die Stressreaktion und andere kleinere Wehwehchen sind auskuriert. Philipp Pflieger kann wieder durchstarten. Und das will er auch. Im Frühjahr hat er nicht nur daheim in Regensburg, sondern auch im portugiesischen Monte Gordo und italienischen Cervia an der Form gefeilt. In der unmittelbaren Olympiavorbereitung zieht es ihn zweimal für mehrere Wochen ins Höhentrainingslager nach St. Moritz in der Schweiz. „Das habe ich im vergangenen Jahr in Vorbereitung auf den Berlin-Marathon zum ersten Mal ausprobiert und habe damit sehr gute Erfahrungen gemacht“, sagt der 29-Jährige.

Und dann steht der Erfüllung des Kindheitstraums am 21. August nichts mehr im Weg. Am letzten Tag der Olympischen Spiele startet der Männer-Marathon. „Es ist für mich immer noch unglaublich, dass mein Traum jetzt nach 20 Jahren Leichtathletiktraining wahr wird.“ Er erwartet ein taktisches Rennen, den „reinen Kampf Mann gegen Mann. Das macht solche Rennen in meinen Augen wahnsinnig attraktiv“. Wohin ihn seine Achterbahnfahrt im Rennen der Crème de la crème der internationalen Marathonszene – seinem ersten bei globalen Titelkämpfen – führen wird, wagt er nicht zu prognostizieren. „Ich will einfach mein Bestes geben.“

Philipp Pfliegers persönliche Einschätzung

„Eine Prognose abzugeben, ist in diesem Fall nicht möglich - obwohl das ansonsten nicht meine Art ist. Aber es ist erst mein dritter Marathonlauf. Ich habe über diese Distanz keinerlei Meisterschaftserfahrung, und diese Premiere ist dann auch gleich der Olympia-Marathon. Ich werde natürlich mein Bestes geben und lasse mich überraschen wofür das reichen wird. Es ist sicher sinnvoll, in Rio konservativ anzulaufen. Die olympischen Marathonrennen der Vergangenheit haben gezeigt, dass einiges möglich sein kann.“

Julian Flügels Stärke ist die Ausdauer. Das zeigte sich bei seinen Marathonrennen in den vergangenen Jahren, in denen er konstant Zeiten im Bereich von 2:14 und 2:15 Stunden erreichte. In Berlin steigerte er sich im vergangenen September auf 2:13:57. Damit unterbot er die später angepasste Olympianorm knapp. Durch das verletzungsbedingte Olympia-Aus von Hendrik Pfeiffer rutschte Julian Flügel noch ins deutsche Marathon-Team für Rio.

Eine Muskelverletzung hatte Julian Flügel in diesem Frühjahr behindert, so dass er beim Haspa Marathon Hamburg gehandicapt war und nicht über 2:17:10 Stunden hinauskam. Doch rechtzeitig vor Rio war Julian Flügel wieder fit. Dies bewies er auch mit einem guten Lauf bei der Halbmarathon-EM in Amsterdam, wo er als bester Deutscher in 65:18 Minuten Platz 24 erreichte.

Julian Flügel hat trotz einer Doppelbelastung die Olympia-Qualifikation geschafft. Er arbeitet 30 Stunden in der Woche als Revisor für ein Gabelstapler-Unternehmen. Oft ist er auch im Ausland tätig, und manches Mal werden es mehr als 30 Wochenstunden. „Nur zu laufen, das wäre mir zu langweilig. Außerdem denke ich auch langfristig an meine berufliche Zukunft“, sagt Julian Flügel, der als Jugendlicher zunächst Fußball spielte und dann im Alter von 16 Jahren zum Laufsport kam.

Julian Flügels persönliche Einschätzung

„Es ist ganz schwer zu sagen, was in Rio möglich ist und eine Prognose abzugeben. Ich kann die Konkurrenz nicht einschätzen. Die letzten Jahre haben aber gezeigt, dass bei Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen immer etwas möglich ist. Es gibt viele Athleten, die einbrechen. Ich werde bei voraussichtlich warmem Wetter vorsichtig angehen und hoffe, dass ich gut durchkomme. Dann ist vielleicht eine Platzierung im vorderen Mittelfeld möglich. Vielleicht können Philipp und ich uns gegenseitig unterstützen. Das ist aber schwierig vorher zu planen, denn man muss sehen, wie sich jeder am Wettkampftag fühlt.“

Eliud Kipchoge (Kenia) I Bestzeit: 2:03:05

Wenn es im Marathon der Männer einen Favoriten gibt, dann kann es nur Eliud Kipchoge sein. Er ist der derzeit beste Marathonläufer der Welt und der Mann, den es zu schlagen gilt für seine Konkurrenten. Im April gewann Eliud Kipchoge den fünften großen Lauf über die 42,195 km in Folge. Nach einem Auftaktsieg in Hamburg 2013 folgte seine einzige Marathon-Niederlage in Berlin im gleichen Jahr, wo er dem damals Weltrekord laufenden Wilson Kipsang den Vortritt lassen musste. Danach siegte er in Rotterdam, Chicago, London, Berlin und nun erneut an der Themse. Den zwei Jahre alten Londoner Streckenrekord von Wilson Kipsang (2:04:29) verbesserte er im April deutlich auf 2:03:05, den Weltrekord verpasste er dabei lediglich um ärgerliche acht Sekunden. Kipchoge kann jetzt schon fünf Zeiten unter 2:05 Stunden vorweisen.

Stanley Biwott (Kenia) I Bestzeit: 2:03:51

Stanley Biwott gewann im vergangenen November den New York-Marathon gegen hochkarätige Konkurrenz. Das ist nach wie vor der größte Sieg seiner Karriere. Damals reichten 2:10:41 Stunden zum Sieg, doch der Kenianer hatte schon vorher gezeigt, dass er sehr viel schneller laufen kann. In Paris gewann er 2012 in der damaligen Streckenrekordzeit von 2:05:12, in London steigerte er sich 2014 auf 2:04:55. In diesem Jahr lief Stanley Biwott sein bisher wohl bestes Rennen: An der Themse war er Zweiter hinter Eliud Kipchoge und erreichte 2:03:51.

Tesfaye Abera (Äthiopien; Foto) I Bestzeit: 2:04:24

Tesfaye Abera schaffte wie eine Reihe seiner Landsleute den Durchbruch beim Dubai-Marathon. Überraschend gewann er das Rennen im Januar mit der Weltklassezeit von 2:04:24 Stunden. Damit steigerte er seinen persönlichen Rekord gleich um gut fünf Minuten, hatte jedoch Pech, weil er den Streckenrekord in dem Wüstenemirat um eine Sekunde verpasste. Da längst nicht alle Äthiopier, die in Dubai in den letzten Jahren starke  Zeiten liefen, diese Ergebnisse danach bestätigten, entschloss sich Tesfaye Abera im April einen weiteren Marathon zu laufen, um zu zeigen, dass Dubai keine Eintagsfliege war. Er gewann auch in Hamburg und lief dort bei windigen Bedingungen 2:06:58. Damit sicherte er sich die Rio-Nominierung, schwächte sich möglicherweise jedoch zugleich für die Spiele. Denn in Rio wird er nun schon den dritten Marathon in diesem Jahr laufen.

Lemi Berhanu (Äthiopien) I Bestzeit: 2:04:33

Lemi Berhanu ist ein weiterer äthiopischer Dubai-Marathon-Sieger. Ähnlich wie Tesfaye Abera steigerte auch er sich dabei um gut fünf Minuten: In 2:05:28 gewann Berhanu 2015 in Dubai, wo er in diesem Jahr knapp geschlagener Zweiter war und sich auf 2:04:33 steigerte. Wie Tesfaye konnte sich auch Berhanu trotz der Weltklassezeit nicht sicher sein, für Olympia nominiert zu werden. Er startete beim Boston-Marathon und gewann auf dem schweren Kurs in 2:12:45. Das brachte Berhanu das Rio-Ticket, doch auch für ihn wird damit der olympische Marathon bereits der dritte in diesem Jahr sein. Das ist sicher kein Vorteil.

Feyisa Lelisa (Äthiopien) I Bestzeit: 2:04:52

Die besten Zeiten von Feyisa Lelisa liegen ein paar Jahre zurück: 2012 war er beim Chicago-Marathon Zweiter mit 2:04:52 Stunden, zwei Jahre zuvor war er in Rotterdam 2:05:23 gelaufen, und 2011 hatte er bei der WM Bronze gewonnen. Sein Sieg beim Tokio-Marathon im Februar mit 2:06:56 überzeugte die äthiopischen Funktionäre. Unverständlich bleibt jedoch, warum als dritter Läufer nicht Kenenisa Bekele nominiert wurde. Unter normalen Umständen wäre Bekele aufgrund seiner Grundschnelligkeit der Mann im olympischen Starterfeld gewesen, der Eliud Kipchoge am ehesten in Schwierigkeiten hätte bringen können. Dieses großes Duell findet nun nicht statt. Lelisa hat im Vergleich zu seinen äthiopischen Landsleuten aber den Vorteil, dass er in diesem Jahr bisher nur einen Marathon gelaufen ist.

Stephen Kiprotich (Uganda) I Bestzeit: 2:06:33

Stephen Kiprotich sorgte mit seinem Sieg beim olympischen Marathon in London für eine große Überraschung. Es war ein weiterer Beweis dafür, dass bei dem olympischen Rennen alles möglich ist. Kiprotich, der in Uganda zu einem Volkshelden wurde, gewann ein Jahr später auch den WM-Titel in Moskau. Bei dem Rennen in Russland zeigte er, dass er auch bei hohen Temperaturen sehr gut laufen kann. Stephen Kiprotich ist ein Meisterschaftsläufer, einen bedeutenden City-Marathon hat er noch nie gewonnen. Seine Bestzeit von 2:06:33 Stunden erzielte er mit einem zweiten Rang in Tokio im vergangenen Jahr. Auch im vergangenen Februar startete Kiprotich in Tokio und wurde Vierter. Dadurch hatte er ein halbes Jahr Vorbereitungszeit - mehr als die meisten seiner Konkurrenten - auf den olympischen Marathon, was durchaus ein Vorteil sein kann.

Ghirmay Ghebreslassie (Eritrea) I Bestzeit: 2:07:46

Sensationell gewann Ghirmay Ghebreslassie vor einem Jahr in Peking den Marathon-WM-Titel. Nichts hatte darauf hingedeutet, dass er diesen Titel in seinem dritten Rennen über die klassische Distanz gewinnen könnte. 2:09:08 Stunden war er 2014 in Chicago als Sechster gelaufen, dann folgte ein zweiter Platz in Hamburg mit 2:07:47. Mit 19 Jahren wurde er vier Monate später zum jüngsten Marathon-Weltmeister der WM-Geschichte. Beim superschnellen London-Marathon im April hatte er einen großen Rückstand auf den Sieger Eliud Kipchoge, erreichte aber immerhin Rang vier und verbesserte sich um eine Sekunde auf 2:07:46. Den Bonus des Unbekannten hat er in Rio als Weltmeister nicht mehr. So wird es schwerer, die Konkurrenz ein weiteres Mal zu überraschen.