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Piriformis
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Piriformis-Syndrom & Co.
Was tun, wenn der Po beim Laufen schmerzt?

| Text: Dr. Stefan Graf | Fotos: Adobe Stock

Wenn beim Laufe der Po schmerzt, führen die eigenen Recherchen oft zur Standarddiagnose Piriformis-Syndrom. Doch der Schein kann trügen. Denn das Gesäß ist ein kompliziertes Gebilde.

Schmerzen im Po beim Laufen – das gehört zu den häufigen Problemen von Läuferinnen und Läufern. Besonders in und nach Phasen hoher Trainings-/Wettkampfbelastung. Diese stärkeren Gesäßschmerzen lassen sich meist weder auf einen Sturz noch einen akuten Muskelfaserriss mit plötzlichem Schmerzeinschuss zurückführen. Auch längere aktive und passive Regerationsmaßnahmen helfen oft nicht.

Die Standard-Diagnose lautet dann oft Piriformis-Syndrom. Schmerzverursacher ist dabei der „Musculus piriformis“. Seinen Namen hat er von seiner Form erhalten, die erinnert nämlich an eine Birne und im Lateinischen bedeutet piriformis birnenförmig.

Piriformis
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Deswegen steckt oft der Piriformis hinter den Schmerzen

Der Piriformis ist der Hauptverbinder des zum Beckengürtel gehörenden Kreuzbeins mit dem Oberschenkel. Er bildet zusammen mit fünf weiteren, tief im Gesäß verlaufenden Muskeln, die Gruppe der tiefen Hüft-Außenrotatoren, die bei jedem Laufschritt gefordert sind.

Was den Piriformis sensibel macht, ist seine Nähe zum Ischiasnerv. Der verursacht oft starke, mitunter vom unteren Rücken über Gesäß und Oberschenkel bis in den Fuß ausstrahlende Schmerzen. Der Ischias ist der dickste Nerv im menschlichen Körper. Er verläuft vom unteren Lendenwirbelbereich an der Hinterseite des Oberschenkels entlang bis zur Kniekehle, um von dort nach Aufteilung in Waden- und Schienbeinnerv bis in den Fuß weiterzuziehen.

Zu viel und zu wenig Bewegung – beides ist schlecht

Läuferische Überlastung kann Verkrampfungen oder Verdickungen des Piriformis-Muskels auslösen, der dann durch Druck und Reibung zur entzündlichen Reizung des Ischiasnerv führt. Dass gerade der Piriformis im Zentrum dieses sehr schmerzhaften Geschehens steht, liegt an der besonderen Anatomie im Beckenbereich. Da der Ischiasnerv bei manchen Menschen direkt unter dem Piriformis hinweg, bei anderen durch ihn hindurch läuft, kann eine Enge in diesem Bereich die Nervenreizung auslösen.

Fatalerweise wird das Piriformis-Syndrom nicht nur durch Überbeanspruchung, sondern auch durch lange Inaktivitätsphasen (z. B. stundenlanges Sitzen oder Stehen) getriggert. Wie so oft ist der goldene Mittelweg zwischen Couch und Ultralauf die beste Vermeidungsstrategie.

Anzeichen eines Piriformis-Syndroms …

… können tiefe Gesäßschmerzen – mitunter in Rücken und Beine ausstrahlend und mit Taubheitsgefühlen einhergehend –sein. Überlastung ist einer der bekannten Auslöser. Funktionstest und Bildgebung sichern die Diagnose.

Nicht alles ist Piriformis

Der Schmerz konzentriert sich beim Piriformis-Syndrom besonders auf den tiefen Gesäßbereich, oft mit Ausstrahlung in Rücken und Beine sowie Kribbeln und Taubheitsgefühlen. Die Beschwerden sind aber keinesfalls so spezifisch, dass andere Ursachen auszuschließen sind.

Daher sprechen sich Fachmediziner dafür aus, anstatt vorschnell ein Piriformis-Syndrom zu diagnostizierten, besser vom „Tiefen Glutealen Schmerzsyndrom“ zu sprechen. Wer sich mit Gesäßschmerzen herumplagt und trotz deutlich reduzierter Belastung nicht innerhalb einer oder maximal zwei Wochen deutliche Besserung verspürt, sollte sich einer fachärztlichen Diagnostik mit speziellen Funktionstests und bildgebenden Verfahren unterziehen.

Nach aktueller Datenlage …

… ist das früher als Hauptverursacher für Gesäßschmerzen vermutete Piriformis-Syndrom für höchsten acht Prozent der Schmerzbeschwerden im unteren Rücken/Gesäß verantwortlich.

Sensible Sehnen

Anstatt jedes „Zwicken im Hintern“ dem Piriformis in die Schuhe zu schieben, fordern Expertinnen und Experten eine stringente Abgrenzung zu anderen Schmerzauslösern, die in ihrer Symptomatik ähnlich sind. So verlaufen im Beckenbereich die Sehnen einer Vielzahl von Muskeln, die für die Hüft- und Beinbewegung zuständig sind.

Quadriceps, Hamstrings, Adduktoren, Abduktoren, Außen- und Innenrotatoren – sie alle spannen ihre Sehnen kreuz und quer durch das Becken. Das bietet jede Menge Beschwerdepotential, zumal Sehnen aufgrund schlechterer Blut-/Nährstoffversorgung und langsamerer Anpassungsfähigkeit viel empfindlicher auf Überlastung reagieren als ihre Muskeln.

Besonders sensible sind die Sehnenansatzpunkte (Insertionen) am jeweiligen Knochen. Liegt hier eine Reizung oder Verletzung vor, spricht man von „Insertions-Tendopathie“. Dank moderner Bildgebung hat sich erst in jüngerer Zeit herauskristallisiert, dass viele zuvor als Piriformis-Syndrom diagnostizierte Gesäßbeschwerden ihre wahre Ursache in Tendopathien, also in akuten oder degenerativen und teilweise entzündlichen Sehnenbeschädigungen haben. Ein typischer Fehler im Trainingsaufbau, der Tendopathien fördert, ist die zu schnelle Umfangs- und/oder Intensitätssteigerung.

Gesäßschmerzen, die binnen weniger Tage keine Linderung erfahren …

… sollten ärztlich abgeklärt werden. Bei Sensibilitätsstörungen oder gar Taubheitsgefühlen, die in Rücken oder Beine ausstrahlen, sollte der Arztbesuch unverzüglich erfolgen.

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Wenn das Gelenk streikt

Als Gelenkblockade bezeichnen Medizinerinnen und Mediziner koordinative Störungen zwischen Muskeln, Bändern und Nerven, die den Bewegungsumfang eines Gelenks einschränken und sehr schmerzhaft sein können. Im Bereich der Wirbelsäule mit ihren vielen kleinen Zwischenwirbelgelenken treten Blockaden gehäuft auf. Geradezu ein Klassiker ist die Blockade im „Iliosakralgelenk (ISG)“ (im Bild rot markiert), das die Verbindung zwischen unterer Wirbelsäule (Kreuzbein/Os sacrum) und Beckenschaufel (Darmbein/Os ilium) bildet.

Wenn das ohnehin relativ wenig bewegliche ISG noch weiter beschränkt wird, äußerst sich das typischerweise in einseitigen Schmerzen im oberen Gesäß- und unteren Rückenbereich. Besonders das Vorbeugen des Oberkörpers und Außenrotationen des Beins in der Hüfte können heftige Schmerzen bereiten. Meistens ist eine ISG-Blockade weniger die Folge von Überlastung, sondern eher von Fehltritten sowie längeren Fehlbelastungen (Lauftechnik).

So kannst du Problemen vorbeugen

So knifflig mitunter die genaue Diagnostik ist, so klar gestalten sich die Vorbeugemaßnahmen. Ob Beschwerden vom Piriformis-Muskel, den Sehnenansätzen oder dem ISG ausgehen – durch Vermeidung einer Reihe von immer gleichen Fehlern in der Trainingsroutine lassen sich die Risiken zur Entwicklung von Gesäßschmerzen minimieren.

1. Trainingsumfänge langsam steigern
Besonders Anfängerinnen und Anfänger, aber auch übermotivierte „alte Hasen“ steigern ihre Trainingsumfänge oft viel zu schnell. Hier lieber ganz vorsichtig mehr machen.

2. Auf Kräftigung und Stabilisation achten
Hinzu kommt die Vernachlässigung des gar nicht hoch genug einzuschätzenden Stabilisations- und Kräftigungstrainings. „Nur-Läuferinnen und -Läufer“ neigen aufgrund des monotonen Belastungsmusters zu muskulären Dysbalancen, die schmerzhafte Fehlhaltungen provozieren.

Zur Stärkung der Muskeln und Sehnen, die das Gesäß durchlaufen, eignen sich Übungen wie Außen-/Innenrotation der Hüfte, Ab-/Adduktion des Beins gegen Widerstand und Oberschenkelheben nach vorn und hinten. Im Hinblick auf die Sehnen-bedingten Gesäßschmerzen ist das regelmäßige Einbauen sogenannter bradytropher Trainingsmodule empfehlenswert.

„Bradytrophes Training“ ist ein spezielles Kraftausdauertraining, das sich durch eine deutlich verlängerte Anspannungsdauer (über 120 Sekunden) des trainierten Muskels auszeichnet. Ziel ist es, das bradytrophe Gewebe an bevorstehende Belastungen zu gewöhnen.

3. Das Aufwärmen nicht vergessen
Bradytrophe Übungen für die am Becken ansetzenden Sehnen der Ab- und Adduktoren lassen sich gut in das Aufwärmprogramm vor dem Lauftraining einbauen. Ohnehin ist das behutsame Warm-up vor Intensivbelastungen eine zu oft vernachlässigte Präventionsmaßnahme.

4. Den Laufstil checken
Ein ökonomischer, an die individuelle Anatomie angepasster Laufstil ist auch Erfahrungssache. Schmerzen provozierende Eigenheiten im Bewegungsablauf lassen sich schwer durch Selbstbeobachtung aufdecken. Treten wiederholt dieselben Beschwerden auf, sollte eine orthopädische Gang-/Laufanalyse nicht auf die lange Bank geschoben werden, um durch Bewegungsschulung (Lauftechnik) und/oder erforderliche Orthopädietechnik (z. B. Einlagen) einer Schmerzchronifizierung vorzubeugen.

5. Nicht zu lange sitzen
Die erst in den letzten Jahren gesicherte Erkenntnis, dass langes Sitzen einen eigenständigen Risikofaktor darstellt, der sich durch sonstige körperliche Aktivität nicht eliminieren lässt, gilt für Herz-Kreislauferkrankungen wie für Beschwerden am Bewegungsapparat gleichermaßen.

Das Gesäß reagiert auf die mit lange Sitzperioden verbundene Kompression und auf wenig durchblutungsfördernde Immobilität auch bei aktiven Läufern empfindlich. Mit regelmäßigen Mobilisierungspausen im 30-Minutentakt lässt sich die Gefahr entschärfen, unvermeidbare Sitzmarathons mit Gesäßbeschwerden zu bezahlen.

Auslöser nicht-traumatischer Gesäßschmerzen

  • Zu schnelle Steigerung der Trainingsbelastung
  • Überlastung des Muskels durch zu große Trainingsumfänge/-intensitäten
  • Zu schwach (hypotroph) oder zu stark (hypertroph) ausgebildeter Piriformis-Muskel infolge unzureichenden oder übermäßigen Trainings
  • Fehlerhafte Belastungssteuerung: unvollständige Reparatur kleiner Muskelläsionen infolge zu kurzer Regenerationsphasen
  • Ungünstige Lauftechnik, Muskelverspannungen fördernde Fehlhaltung
  • Unzureichendes Aufwärmen vor intensivem Training
  • Fehlende Mobilisation während langer Sitzphasen
  • Anatomische Anomalien wie ein besonders nah unter dem Piriformis-Muskel oder durch ihn hindurch laufender Ischiasnerv

In Bewegung bleiben

Wie für 90 Prozent der Rückenprobleme gilt auch für tiefe Gesäßschmerzen der Versuch, mit sanften (!) Bewegungsformen mobil zu bleiben, als wichtige Therapiemaßnahme. Immobilität wirkt im Weitblick beschwerdeverstärkend. Die Einnahme eines gering dosierten Schmerzmittels zum Erhalt der Mobilität ist für ein bis zwei Tage zulässig, aber stets im Bewusstsein, dass die Schmerzlinderung keine Heilung bedeutet und nicht zu intensiviertem Training verleiten darf.

Für weiterführende Behandlungsmaßnahmen gibt es aufgrund der Mehrzahl möglicher Ursachen keine einheitliche Behandlungsleitlinie. Demzufolge gibt es kein „One-fits-All“-Konzept. Die besten Erfolgsaussichten verheißt eine auf Basis der ärztlichen Diagnostik gestaltete Herangehensweise mit individueller Physiotherapie, neuralen Mobilisationstechniken, Behandlung von Weichteil- und Faszienstrukturen sowie Dehnungen und gezielten Kräftigungsübungen.

Vermeiden, was vermeidbar ist

Durch die Vielzahl mit- und gegeneinander arbeitender Muskeln, die komplexe Bewegungsmuster ausführen, ist der Bereich von Gesäß, Becken und Hüfte anfällig für Über- und Fehlbelastungsbeschwerden. Die bradytrophen Sehnenstrukturen und die relative Enge mit dicht verlaufenden Schmerznerven stellen eine sensible Gesamtsituation dar.

Ein Großteil der Beschwerden lässt sich durch vernünftigen Trainingsaufbau mit vielseitigen Anforderungen (Kraft, Stabilisation), bewusstes Aufwärmen und rechtzeitiges Handeln bei ersten Symptomen vermeiden.