Balanced Cushioning
Warum Laufschuhe ohne Sprengung oft die bessere Wahl bei Verletzungen sind

| von Norbert Hensen | Fotos: Altra

Wenn das Material eines Laufschuhs unter der Ferse exakt so hoch ist wie unter dem Vorfuß, dann spricht der Experte von „null Sprengung“. Wir erklären, was es damit auf sich hat.

Den Begriff „Sprengung“ hast du im Zusammenhang mit Laufschuhen bestimmt schon einmal gehört, oder? Bei vielen Tests in Fachmagazinen wird die sogenannte „Sprengung“ in Millimetern angegeben. In der Regel liegen die Werte zwischen 0 und 12 Millimetern. Aber was heißt das eigentlich und warum sind diese Zahlen überhaupt wichtig? Und warum gibt es Hersteller, die komplett auf einen Fersenabsatz verzichten?

Die Sprengung bezeichnet den Höhenunterschied der Mittelsohle zwischen Ferse und Vorfuß. Die Mittelsohle ist sozusagen das Herzstück eines jeden Laufschuhs. Das Material, die Geometrie und eben auch das Volumen dieser Sohle sind bei Laufschuhen unterschiedlich.

Je nach Beschaffenheit fühlen sich Laufschuhe komfortabler, weicher, dynamischer oder fester an. Bei allen Unterschieden im Materialmix hat sich der Höhenunterschied zwischen Fußballen und Ferse als wichtiges Unterscheidungsmerkmal etabliert. Je größer die Sprengung, desto höher ist also der "Absatz" des Laufschuhs.

Balanced Cushioning – mehr als nur ein Barfuß-Trend

Aber warum ist das überhaupt wichtig? Das hat mit Biomechanik, aber auch funktioneller Anatomie zu tun. Sehr einfach gesagt: Eine niedrige Sprengung reduziert Kräfte, die beim Laufen aufs Kniegelenk einwirken können. Weil das Laufen ohne Absatz dem natürlichen - also dem Barfuß-Laufen - sehr nahekommt, hat sich der Hersteller Altra diesem Prinzip verschrieben. Alle von Altra produzierten Laufschuhe sind unter der Ferse und unter dem Vorfuß gleich hoch.

„Bei uns heißt das Balanced Cushioning“, erklärt Tim Rose von Altra, „aber es besagt dasselbe wie null Sprengung. Die Laufschuhe von Altra verzichten auf einen Fersenabsatz, der nicht natürlich ist.“

2011 hatten die beiden US-Läufer Brian Beckstead und Golden Harper im US-Bundesstaat Utah das Unternehmen Altra gegründet. Sogar ein Sandwich-Toaster war an ihrem „Null-Sprengung-Konzept“ beteiligt. Hier liest du die Geschichte, wie Altra vor elf Jahren gegründet worden ist.

Den beiden Gründern ging es vornehmlich um die Gesundheit der Läuferinnen und Läufer. Sie selbst arbeiteten in einem Schuhgeschäft und erlebten tagtäglich, mit welchen Verletzungen die Leute in den Laden kamen. „Damals waren hohe Absätze von 10 oder 12 Millimetern sehr verbreitet“, sagt Tim Rose, „und wenn man mal recherchiert, warum diese hohen Absätze überhaupt entstanden sind, dann stellt man schnell fest, dass dabei niemand daran gedacht hat, Läuferinnen und Läufern etwas Gutes zu tun.“

Warum wir dem Reiten unsere Absätze „verdanken“

Früher waren Schuhe flach. Schaut man noch weiter zurück, waren die meisten Menschen sogar barfuß unterwegs. Dann kam die Industrialisierung. Wir Menschen haben allerlei Dinge erfunden – darunter auch Schuhe. Und Menschen wollten und mussten von A nach B kommen. Bevor das Auto seinen Siegeszug antrat, waren viele Menschen auf Pferden unterwegs. „Die Schuhe mussten damals vorne recht schmal sein und sie mussten einen Absatz haben, erst damit hatte man im Steigbügel eines Sattels einen guten Halt“, erzählt Tim Rose.

Immer mehr Schuhe wurden mit Absatz gebaut. Und irgendwann hat man aufgehört, das zu hinterfragen. Es war einfach so. Tim Rose: „Heute wissen wir, dass unsere Füße es lieben, wenn sie sich aufspreizen können und dass ein flacher Schuh viele gesundheitliche Vorzüge hat.“

Altra jedenfalls verfolgt das „Null-Sprengung-Konzept“ seit der Gründung bis heute. Aber im Gegensatz zum Natural Running Trend von vor 15 Jahren verzichtet Altra nicht auf eine ausreichende Dämpfung. „Wir haben wenig gedämpfte Laufschuhe ebenso im Programm wie Schuhe mit maximaler Dämpfung, hier bieten wir alles an, was Läuferinnen und Läufer brauchen“, so Tim Rose.

Auch wenn die bei Altra etwas breitere Zehenbox es erlaubt, dass der Großzeh seiner natürlichen Stützfunktion nachkommt, so hat der Schuhhersteller auch Laufschuhe mit Support bei der Abrollbewegung im Programm. Nur bei einem Thema gibt es keinen Kompromiss: Einen Laufschuh mit Sprengung gibt es bei Altra nicht.

Wir haben drei Modelle ohne Sprengung getestet. Darunter den Altra Via Olympus mit maximaler Dämpfung, den komfortablen Alltagstrainer Altra Torin 6 und den Support-Schuh Altra Paradigm 6, der sanfte Unterstützung bietet.

Testbericht Altra VIA Olympus

Testbericht Altra Torin 6

Testbericht Altra Paradigm 6

Auch Sportmediziner Dr. Matthias Marquardt, Autor des Buches „Die Laufbibel“ und Check-Up Arzt aus Hannover, ist ein Freund von Laufschuhen mit geringer Sprengung. „Im Alltag sind sie besonders hilfreich. Wenn es aber um eine Verordnung als Laufschuh geht, will ich erst wissen, welches Problem Läuferinnen und Läufer ganz konkret haben.“

Laufschuhe ohne Sprengung sind grundsätzlich eine gute Wahl bei diesen Problemen:

  • Vorderer Knieschmerz
  • Probleme mit Innenmeniskus bzw. mediale Gonarthrose
  • Spreizfuß

„Ich habe aber immer die Achillessehne im Blick. Gibt es dort Probleme, zum Beispiel zusätzlich zu Schmerzen am Knie innen, dann muss ich anders entscheiden“, so Dr. Marquardt. „Eine höhere Sprengung kann etwas Zugbelastung von der Achillessehne nehmen. In diesem Fall würde ich eine Sprengung im Laufschuh durchaus therapeutisch einsetzen“, sagt der Medizin-Experte.

Letztlich entscheidet eine gute Laufschuhberatung darüber, ob du den für dich perfekten Laufschuh findest. Im Fachgeschäft kann dein Laufstil analysiert werden. Wer aber mit Verletzungssorgen zu tun hat, der sollte immer auch den Rat eines (Sport-)Arztes miteinbeziehen. Dr. Matthias Marquardt sagt dir im Folgenden, wie ein Laufschuh beschaffen sein sollte, wenn das Knie Probleme macht oder die Achillessehne schmerzt.

Problem: Vorderer Knieschmerz

Ein häufiges Problem bei Läufer:innen. Symptome sind Schmerzen hinter oder rund um die Kniescheibe. Oft ist auch das Gleitlager hinter der Kniescheibe betroffen. Bei dieser Diagnose ist es wichtig, die Sprengung zu reduzieren. Die Dämpfung darf soft sein. Eine Pronationsstütze sollte nur bei nachgewiesener Überpronation eingesetzt werden.

Problem: Innenmeniskus/mediale Gonarthrose

Grundsätzlich ist dem Knie geholfen, wenn der Absatz deines Laufschuhs sehr flach ist. Je flacher der Schuh, desto weniger Stress auf den inneren Kniegelenksflächen. Das gilt aber nur, wenn keine Achillessehnenbeschwerden vorliegen. Schmerzt die Achillessehne, dann ist eine mittlere Sprengung ein Kompromiss.

Problem: Fersensporn

Der Schmerzpunkt sitzt meist nah an der Ferse, aber die Probleme entstehen oftmals durch eine hohe Zugbelastung auf die Sehnenplatte unterm Fuß. Ein konventioneller Schuh mit fester Fersenkappe und 8 bis 12 Millimeter Sprengung ist eine gute Wahl. Der Schuh kann im Bedarfsfall durch eine Einlage ergänzt werden. Eine solche Einlage ist besser als ein Schuh mit stützender Funktion.

Problem: Achillessehne

Bei Problemen mit der Achillessehne geht es darum, die Sehne zu entlasten. Eine Fersensprengung von mindestens zehn Millimetern kann helfen, den Zug auf die Sehne zu reduzieren. Wichtig ist es, die Beugung im Großzehengrundgelenk zu erleichtern. Laufschuhe mit guter Flexibilität sind empfehlenswert. Weniger geeignet: Schuhe mit steifen (Carbon-)Platten oder Rocker-Technologie, die die Belastung auf die Sehne deutlich erhöhen.

Problem: Piriformis-Syndrom

Die Folge ist ein unangenehmer Schmerz, der vom Rücken über das Gesäß bis zum hinteren Oberschenkel zieht. Der Piriformis ist ein Muskel, der das Kreuzbein und den Oberschenkelknochen verbindet. Lautet die Diagnose Piriformis-Syndrom sind Laufschuhe mit einer Pronationsstütze, einem höheren Absatz und eine Einlage zu empfehlen.