Triathlon mit Rollstuhl und Boot
Alles geben für den Sohn mit Handicap

| von Christian Ermert

David ist 19 und kann nicht gehen und nur schwer sprechen. Sein Gehirn wurde im Babyalter geschädigt. Sein Papa zieht und schiebt ihn über Triathlondistanzen – weil das ihr Leben besser macht.

Manch einer traute seinen Augen kaum beim Blick auf die Alster an diesem kühlen, verregneten Hamburger Sonntagmorgen im August 2021: Die besten Triathleten hatten beim Ironman in der Hansestadt schon das Wasser verlassen, da näherte sich ein einsamer Schwimmer der Ein-Kilometer-Marke in der Außenalster. Im Schlepptau: ein Schlauchboot. Und darin sitzend: ein junger Mann. Der Schwimmer, der das Boot an einem Gurt um seine Hüfte durchs Wasser zieht, ist Oscar Caro aus Kolumbien. Der junge Mann im Boot sein Sohn: David Wagner. Der 19-Jährige hat als Baby eine Cerebralparese erlitten. Er kann nicht selbst laufen, das Sprechen fällt ihm schwer. Sein Vater tut alles dafür, dass es ihm dennoch gut geht.

Und dazu zählt auch die gemeinsame Teilnahme an Marathon- und Triathlonrennen. „Ich finde die Begeisterung der Menschen auf und an der Strecke einfach toll“, sagt David. Und Oscar Caro betont, dass der gemeinsame Sport auch Therapie ist. „Es tut ihm einfach gut, den Wind, die Sonne und den Regen zu spüren“, sagt der 49 Jahre alte Kolumbianer, der mit einer Deutschen verheiratet ist und im kommenden Sommer nach Deutschland übersiedeln will. Sein Sohn besucht die deutsche Schule in Barranquilla, einer Millionenstadt an der kolumbianischen Karibikküste, die eine gewisse Berühmtheit erlangt hat, weil Sängerin Shakira von dort stammt. 2021 hat er als Austauschschüler die Freie Comenius Schule in Darmstadt besucht. Und immer ist Oscar Caro aufgefallen, dass Kinder mit solchen Handicaps wie David trotz aller Inklusionsbemühungen zu viel Zeit in geschlossenen Räumen verbringen. „Wenn wir gemeinsam draußen sind, wird das Immunsystem trainiert“, sagt er.

Das Mitfahren tut David so gut, dass er keine Medikamente braucht

Beim Laufen und Radfahren kommt aber noch etwas anderes hinzu, sobald Oscar seinen Sohn in einem speziell dafür angefertigten Wagen mitnimmt: Die Vibrationen entspannen Davids Muskulatur, die aufgrund geschädigter Hirnareale ständig viel zu stark angespannt ist. „Spastik“ nennt man diesen stark erhöhten Muskeltonus in der Medizin. Bei David liegen die Ursachen dafür im Babyalter. Er hatte Probleme mit der Lunge, als er sechs Monate alt war. „Er konnte kaum atmen, musste auf der Intensivstation behandelt werden und dennoch wurde sein Gehirn über einen zu langen Zeitraum nicht ausreichend mit Sauerstoff versorgt“, erinnert sich Oscar Caro.

Seitdem funktioniert das Zusammenspiel zwischen Gehirn und Muskulatur nicht mehr richtig. David sitzt im Rollstuhl, auch das Sprechen fällt ihm schwer. Seine Intelligenz hat darunter gar nicht gelitten. Trotz seiner muskulären Probleme hat er Schwimmen gelernt, spielt Cello und Klavier. Und das, ohne Medikamente gegen die Spastiken einnehmen zu müssen. Sein Vater ist überzeugt davon, dass der ganze Bewegungsapparat auf die Vibrationen und die Empfindungen beim Fahren im Wagen mit Entspannung reagiert, so dass der Muskeltonus sinkt und sich gleichzeitig Gleichgewicht und Körpergefühl verbessern. Außerdem werden so zahlreiche Muskeln gestärkt und revitalisiert, die zu verkümmern drohen, wenn sie nicht stimuliert werden.

Der Papa trainiert hart, um den Sohn mitnehmen zu können

Damit er seinem Sohn dies alles bieten kann, arbeitet Oscar Caro hart: Er trainiert jeden Tag ein bis zwei Stunden, am Wochenende fährt er bei schlechtem Wetter auch schon mal sechs Stunden zu Hause Rad auf der Rolle. Dabei war er vor gut 15 Jahren noch unsportlich und ziemlich füllig. Das änderte sich, nachdem er zusammen mit seinem Sohn von ihrer Heimatstadt Barranquilla an der kolumbianischen Karibikküste zu einer Rehabilitation in die gut 2600 Meter hoch in den Bergen gelegene Hauptstadt Bogota gereist war, wo auch ein Onkel Davids wohnt. Der plante damals die Teilnahme an einem Halbmarathon und kam auf die Idee, David im Kinderwagen mitzunehmen. „Ich fand das erstmal gar nicht so toll, machte mir Sorgen, dass ihm zu kalt werden könnte“, erinnert sich Oscar. Aber dann haben sie es doch gemacht. Und David genoss sichtlich jeden Kilometer des Laufs. Als am Ende sein Papa die beiden noch ein bisschen begleitete, meinte David zu ihm: „Du läufst ja wie einer Ente.“

Und das war irgendwie Ansporn für Oscar, mit dem Training zu starten. Zurück in ihrer Heimatstadt Barranquilla erfuhren die beiden dann, dass es dort einen Zehn-Kilometer-Lauf geben wird. David wollte unbedingt mitmachen. Und ein Jahr später nach seinem Debüt in Bogota war er zusammen mit seinem Papa am Start. Der erinnert sich so daran: „Nach acht Kilometern war ich schon ganz kaputt und habe das auch zu David gesagt.“ Und der meinte: „Schade, dann bekomme ich keine Medaille.“ Natürlich haben die beiden durchgehalten. David bekam die Finisher-Medaille. „Da haben wir beschlossen, nie aufzugeben“, sagt Oscar.

Ein paar Jahre später folgte der erste Halbmarathon der beiden in Miami, ein Teil ihrer Familie lebt in Florida. Zurück in Barranquilla, wo Oscar zusammen mit seiner deutschen Frau eine Rehaklinik für Kinder betreibt, hat David dann ein Video gesehen von einem Papa, der mit seinem Sohn einen Ironman bestritten hat. Und für ihn war klar: Das will ich auch. Die spontane Reaktion von Oscar: „Ich schaffe das nicht. Erstens: Ich habe kein Fahrrad. Zweitens: Ich kann gar nicht schwimmen.“ Aber weil es eben der Wunsch seines Sohnes war, lernte er mit Youtube-Videos schwimmen, schaffte sich ein Fahrrad an und begann mit dem Triathlon-Training.

In Hamburg verliert das Boot Luft

Mittlerweile haben die beiden fünf Marathons – unter anderen 2019 in Frankfurt - und ein paar Triathlons gefinisht. Das Training wurde immer professioneller und längst gehört zu ihrer Ausrüstung neben den Fahrrädern der Marke Cucuma, mit denen ein Darmstädter Sponsor die beiden unterstützt, auch jenes Schlauchboot inklusive Seil und Gurt, mit dem Oscar seinen Sohn beim Schwimmen hinter sich herzieht. In Kolumbien findet das Schwimmtraining am Wochenende im warmen karibischen Meer statt. Zur Sicherheit ist immer ein zweites Boot dabei, David trägt natürlich eine Schwimmweste. So trainieren die beiden fast jedes Wochenende zusammen: Mit Rad und Anhänger fahren sie die 20 Kilometer von zu Hause ans Meer, dann wird geschwommen, zurück geht’s wieder mit dem Rad. Sonntags laufen die beiden.

Hamburg war dann ihr erster Ironman-Versuch. 3,2 Kilometer Schwimmen mit dem Schlauchboot im Schlepptau. Dann 180 Kilometer auf dem Rad mit Anhänger. Dann ein Marathon mit dem gleichen Anhänger, der zum Laufen zu einer Art „Riesenbabyjogger“ umgebaut wird, den Oscar schiebt. Nur dass David und der Wagen zusammen fast 80 Kilogramm wiegen. In Hamburg war das allerdings nicht ihr Problem. Denn zum Laufen kamen die beiden gar nicht. Sie hatten ihr Boot aus Kolumbien mitgebracht. Aber irgendwie war das kaputt gegangen. Kurz vor dem Start besorgten sich die beiden in einem Sportgeschäft ein neues Gummiboot. Aber auch das funktionierte nicht. Nach ein paar hundert Metern bemerkte Oscar, dass es Luft verlor.

Nach einem Kilometer war Schluss. Die beiden wurden von der Organisation aus der Außenalster geholt, durften aber trotzdem noch zum Radfahren antreten. Aber an diesem Augustsonntag war es in Hamburg kalt, windig und regnerisch. Oscar erinnert sich: „Nach 120 Kilometern haben uns die Organisatoren gestoppt. Es ist einfach zu kalt, um so lange in einem Radanhänger zu sitzen. Das sei für David nicht gesund, hieß es. Wir wollten weiterfahren, aber sie haben es verboten.“ Und so war der erste Ironman-Versuch der beiden an widrigen Umständen gescheitert. Im Sommer 2022 planen die beiden den nächsten Versuch, wenn die ganze Familie nach Deutschland übergesiedelt ist. Denn das ist ihr Plan für 2022 - neben einer großen Spendenaktion, bei der David von seinem Vater und einigen anderen Sportlern mit Rad und Anhänger 1000 Kilometer an drei Tagen fahren wollen. Aber das ist noch mal eine andere Geschichte …