Sensation in Tokio
Amanal Petros stürmt zu WM-Silber im Marathon
Um ein Haar wäre Amanal Petros sogar Marathon-Weltmeister geworden: Erst im Zielsprint schob sich Alphonce Simbu (Tansania) noch am führenden Deutschen vorbei und schnappte sich die Goldmedaille.
Amanal Petros hat mit einer für den deutschen Laufsport sporthistorischen Leistung sensationell die Silbermedaille im Marathon bei den Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Tokio gewonnen. Dabei hätte der 30-Jährige im sicherlich engsten Finish in der Geschichte großer interkontinentaler Meisterschafts-Marathonrennen um ein Haar sogar die Goldmedaille gewonnen. Erst auf dem letzten Meter schob sich Alphonce Simbu (Tansania) noch am führenden Amanal Petros vorbei und schnappte sich die Goldmedaille. Beide Läufer erreichten mit 2:09:48 Stunden zeitgleich das Ziel im Olympiastadion von Tokio.
Der Zeitunterschied auf dem Zielfoto betrug offenbar nur drei Hundertstelsekunden, was für das Auge nicht zu erkennen ist - der Internationale Leichtathletik-Verband World Athletics muss sich fragen, ob es bei einem Rennen mit 42,195 km Länge sinnvoll ist, Läufer am Ende wie in einem 100-m-Rennen nach Hundertstelsekunden zu separieren. Dritter wurde der Italiener Iliass Aouani mit 2:09:53 während bei heiß-schwülem Wetter die favorisierten Läufer aus Kenia und Äthiopien am Ende überraschend keine Rolle spielten.
Richard Ringer beendet starkes Rennen auf Rang 13
Während Amanal Petros (Hannover 96), der aus Eritrea stammt und vor einem Jahr bereits Dritter bei der Halbmarathon-EM war, das beste Rennen seiner Karriere lief und natürlich den bisher größten Erfolg erreichte, zeigte Richard Ringer (LC Rehlingen) ein weiteres starkes Rennen. Der Marathon-Europameister von München 2022 lief auf Rang 13 in 2:11:14. Nach Amanal Petros ist dies die zweitbeste Leistung eines deutschen Marathonläufers bei der WM seit gut 30 Jahren.
Die Silbermedaille von Amanal Petros ist die beste Platzierung, die je ein deutscher Marathonläufer bei einer Weltmeisterschaft erreichte - die Frauen inbegriffen. Bei der Premiere der WM 1983 in Helsinki hatte Waldemar Cierpinski, der 1976 und 1980 Marathon-Olympiasieger war, die Bronzemedaille gewonnen. Ebenfalls Dritte war Katrin Dörre-Heinig bei den Weltmeisterschaften 1991, die damals auch in Tokio stattfanden. „Das ist ein Traum - es war eine sehr lange Reise zu dieser Medaille. Im Marathon kann immer alles passieren, daher war ich mir nie sicher, dass ich gewinne. Dass ich dann so knapp noch überholt wurde, muss ich akzeptieren“, sagte Amanal Petros. „Das ist ein Anfang“, fügte der Vize-Weltmeister hinzu, der dabei ist, in die Fußstapfen von Waldemar Cierpinski zu treten. Amanal Petros zeigte in Tokio das beste Meisterschafts-Rennen eines deutschen Marathonläufers seit der sensationellen Bronzemedaille von Stephan Freigang 1992 bei den Olympischen Spielen in Barcelona.
Am Montagmorgen betrugen die Temperaturen in Tokio zwischen 28 bis 30 Grad Celsius bei einer Luftfeuchtigkeit zwischen 60 und 70 Prozent. Die gefühlte Temperatur lag allerdings bei 36 rund Grad.
- Fotos: NurPhoto, Xinhua, Goal Sports Images, von der Laage, Beautiful Sports, Aflosport
Eine große Gruppe von rund 50 Läufern formierte sich auf den ersten Kilometern. Nach 30:48 Minuten hatte die Spitze den 10-km-Punkt erreicht. Dieses 2:10er-Stunden-Tempo hielten die Läufer auf dem Weg zum Halbmarathon. Dieser Punkt wurde nach 65:19 erreicht. In der Folge wurde das Rennen etwas schneller und umgehend verloren einige Athleten den Kontakt. Überraschend fiel bei Kilometer 24 einer der Medaillen-Kandidaten, Vincent Ngetich, zurück. Der Kenianer, der mit einer Bestzeit von 2:03:13 ins Rennen gegangen war, litt offenbar unter Magenproblemen.
An der 30-km-Marke (1:32:27 Stunden) waren immer noch 24 Läufer in der Spitzengruppe, darunter auch Amanal Petros und Richard Ringer. Ugandas Titelverteidiger Victor Kiplangat und sein Landsmann Abel Chelangat rannten an der Spitze und liefen dabei ein leicht wechselhaftes Tempo, was dazu führte, dass weitere Athleten den Anschluss verloren. Zu kämpfen hatte zehn Kilometer vor dem Ziel auch Richard Ringer. Der Europameister von 2022 fiel einige Sekunden zurück, fand aber bei 33 km wieder den Anschluss an die Spitze. Dagegen blieb Italiens Halbmarathon-Europameister von 2024, Yemaneberhan Crippa, stehen und gab kurz danach auf.
Ein WM-Novum: Zielfoto entscheidet über Marathonsieg
Der Äthiopier Tadese Takele (PB: 2:03:23) war einer der Medaillen-Kandidaten, die in dieser Phase ausstiegen. Sein Landsmann Deresa Geleta folgte kurze Zeit später. Zwischen Kilometer 34 und 35 konnte auch Richard Ringer nicht mehr mithalten - und dieses Mal gab es keinen Weg mehr zurück in die Spitzengruppe. Trotzdem machte Richard Ringer noch einige Plätze gut und lief am Ende auf Rang 13. „Ich wollte gerne eine Top-Acht-Platzierung erreichen und es wäre vielleicht eine bessere Platzierung möglich gewesen. Aber ich kann mir nichts vorwerfen und freue mich sehr für Amanal“, sagte Richard Ringer.
An der Spitze liefen fünf Kilometer vor dem Ziel immer noch 13 Läufer. Victor Kiplangat war dann bei 39 km unter den nächsten Favoriten, die zurückfielen. Einen Kilometer vor dem Ziel kämpften fünf Athleten um die drei Medaillen. Doch 400 Meter vor dem Ziel hatte Amanal Petros, der sich stets etwas zurückgehalten hatte in der Spitzengruppe und hoch konzentriert wirkte, eine Medaille sicher, denn neben ihm liefen nur noch Iliass Aouani und Alphonce Simbu. Als das Trio im Stadion die Bahn erreichte und noch 350 Meter zu laufen waren, führte Amanal Petros. Und knapp 100 Meter vor dem Ziel sah es nach der ganz großen Sensation aus. Doch auf den letzten 60 Metern konnte er das Tempo nicht mehr halten und so schob sich Alphonce Simbu noch vorbei. „Beim Zieleinlauf habe ich einen Krampf bekommen, deswegen konnte ich nicht mit Vollgas laufen“, sagte Amanal Petros. „So einen Zieleinlauf habe ich im Marathon noch nie gesehen“, sagte die frühere britische Weltrekordlerin und Weltmeisterin Paula Radcliffe, die das Rennen für die BBC kommentierte.
Peres Jepchirchir gewinnt Frauen-Marathon
Bei den Frauen, deren Rennen 24 Stunden vor dem der Männer gestartet wurde, setzte sich bei extrem feucht-heißen Bedingungen setzte Peres Jepchirchir aus Kenia durch. Die kenianische Olympiasiegerin von 2021 gewann nach einem großen Duell in 2:24:43 Stunden mit zwei Sekunden Vorsprung vor Tigst Assefa aus Äthiopien durch. Auch hier fiel die Entscheidung erst im Stadion: Auf den letzten 100 Metern im Stadion konnte Jepchirchir ihre äthiopische Konkurrentin hinter sich lassen.
Wie schon bei den Olympischen Spielen in Paris vor einem Jahr musste sich Tigst Assefa in einer ungewöhnlichen Sprint-Entscheidung geschlagen geben. Bei Olympia setzte sich die Holländerin Sifan Hassan, die in Tokio nicht am Start war, ebenso knapp gegen die Äthiopierin durch. Nur einmal gab es in der WM-Geschichte des Frauen-Marathons ein noch engeres Finish: 2015 gewann die Äthiopierin Mare Dibaba in Peking mit einer Sekunde Vorsprung vor der Kenianerin Helah Kiprop.
Sensationell gewann Julia Paternain, die für Uruguay startet, die Bronzemedaille in 2:27:23. Die 25-Jährige, die in Mexiko geboren wurde und auch die britische Staatsbürgerschaft besitzt, war auf den letzten zwölf Kilometern noch von Platz zehn auf Rang drei nach vorne gelaufen. „Im Ziel konnte ich es nicht glauben, ich bin total im Schock“, sagte Julia Paternain, die in Tokio erst den zweiten Marathon ihrer Karriere lief und die erste WM-Medaille überhaupt für Uruguay gewann.
Eine Reihe von Medaillen-Kandidatinnen gaben das Rennen entkräftet auf. Deutsche Läuferinnen waren beim Marathon in Tokio nicht am Start. Kurzfristig wurde aufgrund der enormen Hitze die Startzeit vorverlegt - allerdings lediglich um 30 Minuten auf 7.30 Uhr. Beim Start herrschten bereits Temperaturen von rund 30 Grad Celsius. Während diese um ein paar Grad stiegen, bewegte sich die gefühlte Temperatur bei über 40 Grad mit einer Luftfeuchtigkeit zwischen 65 und 75 Prozent.
Beatrice Chebet und Frankreichs Jimmy Gressier gewinnen über 10.000 Meter
Das 10.000-Meter-Rennen der Männer endete ähnlich sensationell wie der Marathon: Der neue Weltmeister heißt Jimmy Gressier. Der Franzose gewann das Rennen bei den globalen Titelkämpfen sensationell in 28:55,77 Minuten. Es war das erste Mal, dass ein 10.000-Meter-Läufer aus Frankreich in der WM-Geschichte, die 1983 begann, eine Medaille über diese Strecke gewonnen hat. Silber sicherte sich der Äthiopier Yomif Kejelcha mit 28:55,83. Überraschend lief der Schwede Andreas Almgren bei extrem heiß-feuchten Bedingungen in 28:56,02 auf den dritten Platz. Einmal mehr haben die besten Nicht-Afrikaner gezeigt, dass sie bei Meisterschaftsrennen mit den Afrikanern mithalten können.
Aaron Bienenfeld (Düsseldorf Atheltics) war kurzfristig noch in das Starterfeld gerutscht und hatte umgeplant: Statt sein Marathon-Debüt in Berlin am kommenden Sonntag zu laufen, rannte er nun die 10.000 m in Tokio. Bienenfeld, der in Berlin noch als Tempomacher dabei sein wird, hielt sich zunächst bei sehr langsamem Tempo im hinteren Drittel des Feldes. Nachdem die Spitze die 2.000-m-Marke nach 6:22,39 Minuten passiert hatte und in der Folge das Tempo anzog, fiel Bienenfeld deutlich zurück und lief hinter dem Feld her. Am Ende belegte er Rang 23 in 29:51,41. Das war zu befürchten, denn die Athleten vor ihm haben fast alle ein Weltklasse-Niveau.
An der Spitze wurde das Tempo im Laufe des Rennens zwar etwas schneller, aber nicht gravierend. So waren nach 8.500 Metern immer noch 18 Läufer in der großen Führungsgruppe, die angeführt wurde von Andreas Almgren, der Anfang des Jahres bereits mit einem 10-km-Europarekord (26:53) überrascht hatte und dann auch den kontinentalen 5.000-m-Rekord brach (12:44,27). 600 Meter vor dem Ziel starteten die Äthiopier ihren Angriff. Zunächst ging Selemon Barega an die Spitze, dann folgten Berihu Aregawi und Yomif Kejelcha, der 200 Meter vor dem Ziel sich etwas zu lösen schien. Doch auf der Zielgeraden schob sich überraschend der 28-jährige Jimmy Gressier am Äthiopier vorbei und an die Spitze, verteidigte den kleinen Vorsprung und lief zum größten Triumph seiner Karriere. Gressier hatte in diesem Jahr bereits einen Europarekord über 5 km aufgestellt (12:57) und den Halbmarathon-EM-Titel gewonnen.
Bei den Frauen war Beatrice Chebet auch bei den Weltmeisterschaften in Tokio nicht zu schlagen. Mit einem fulminanten Sprint sicherte sich die Kenianerin, die vor einem Jahr bereits Olympiasiegerin über diese Distanz wurde, die Goldmedaille in 30:37,61 Minuten. Wie in Paris vor einem Jahr gelang Nadia Battocletti ein weiterer Coup: Die Italienerin lief zu einer sensationellen Silbermedaille mit einer italienischen Rekordzeit von 30:38,23 Minuten. Damit gab es auf den ersten zwei Plätzen in Tokio den gleichen Einlauf wie vor einem Jahr in Paris. Dritte wurde die äthiopische Titelverteidigerin Gudaf Tsegay mit 30:39,65. Relativ kurzfristig noch in das 27-köpfige Starterfeld gerutscht, hatte Eva Dieterich (LAV Stadtwerke Tübingen) in dem hochklassig besetzten Rennen keine Chance auf eine gute Platzierung. Sie lief nach 33:46,76 Minuten abgeschlagen auf Platz 24 ins Ziel.