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Joe Nimble-Gründer Sebastian Bär im Interview
„Breite Zehenbox ist nicht verhandelbar“

| Interview: Norbert Hensen | Fotos: Joe Nimble

Ein deutsches Familien-Unternehmen behauptet sich gegen die Großen der Branche. Joe Nimble produziert Laufschuhe mit viel Zehenfreiheit. Ein Interview mit Firmenchef Sebastian Bär liest du hier.

Aus dem Traditionshersteller für Bequemschuhe Bär ist die Laufschuhmarke Joe Nimble hervorgegangen. Im Gespräch mit dem Firmenchef geht's um Trends, Philosophien und das Leben in der Nische. Vor allem aber, um das Laufen mit Zehenfreiheit. Sebastian Bär ist nicht nur Geschäftsführer der Laufschuhmarke Joe Nimble. Er ist Schuhpionier und Erfinder des Functional Footwear-Designkonzepts. Sein Vater entdeckte schon in den 1980er-Jahren, dass viel Zehenfreiheit den Menschen in Alltagsschuhen hilft. Gemeinsam mit seinem Bruder Christof leitet Sebastian Bär das Familienunternehmen BÄR GmbH.

Der neue Ultreya ist gerade auf den Markt gekommen. Die Aufmerksamkeit ist groß. Wie fühlt sich das an, wenn das Produkt, an dem ein Jahr lang gefeilt wurde, endlich auf die Straße kommt?

Sebastian Bär: Es war eine große Erleichterung. Man denkt ja immer noch: Hätten wir hier oder da noch etwas besser machen können? Wenn man sich wie beim UItreya ein Jahr lang mit einem neuen Produkt beschäftigt, dann ist die Anspannung entsprechend hoch. Aber jetzt überwiegt der Stolz, dass das Produkt so ausgereift ist und so gut bei den Kunden ankommt.

Wie ist der Modellname Ultreya entstanden? Ein Kunstwort oder eine spezielle Bedeutung?

Den Begriff habe ich zuerst als Gruß auf dem Jakobsweg gehört. Er bedeutet so viel wie „vorwärts“ oder auch „immer weiter“. Das Wort, sein Klang und die Bedeutung sind bei mir hängengeblieben. Zu unserem neuen Schuh passt der Begriff perfekt, weil auch das Wort „Ultra“ drinsteckt. Im Ultralauf kommen unsere Schuhe seit jeher sehr gut an, weil Ultraläufer die Zehenfreiheit besonders zu schätzen wissen.

Du sprichst das Thema Zehenfreiheit an – sie ist die DNA der Firma Bär. Dein Vater hat das Unternehmen gegründet. Seine Idee ist heute so aktuell wie damals. Wie ist die entstanden?

Das war sehr simpel. Mein Vater war im Vertrieb tätig. Ihm haben nach langen Messetagen die Füße weh getan. Er hat sich immer die Frage gestellt: Warum müssen abends die Füße schmerzen? Wenn er am Wochenende viel barfuß unterwegs war, hatte er diese Probleme nicht. Er hat daraus geschlossen, dass es ihm und anderen besser ginge, wenn die Schuhe seine Füße nicht einengen würden. Mit diesem Thema hat er in den frühen 1980er-Jahren visionäre Pionierarbeit geleistet. In Pirmasens, dem Zentrum der deutschen Schuhindustrie, hat er einen Leisten fertigen lassen, der so geformt war wie der menschliche Fuß. Ihm hat die neue Schuhform sofort gutgetan – da war ihm klar, dass sie anderen Menschen auch helfen würde.

Und wie lange hat es gedauert, bis die ersten Schuhe für den Sport entwickelt worden sind?

1990 bin ich als Austauschschüler in die USA gegangen. Dort war ich zwei Jahre lang auf der High School, es sollte eigentlich nur ein Jahr werden. Aber da ich im Cross Country Laufen recht erfolgreich war, wollte ich unbedingt noch das zweite Jahr dort bleiben. Ich bin damals in unserem Bär-Schuh mit dem Namen „Sprint“ gelaufen. Das war ein recht klobiger Lederschuh – aber mit viel Zehenfreiheit. Ich hatte nicht den leichtesten Schuh im Gelände, aber den, der dem Barfußlaufen am nächsten kam, weil meine Zehen den nötigen Platz hatten. In dieser Zeit habe ich die Vorteile der Zehenfreiheit am eigenen Leib erfahren. Die Inspiration von damals begleitet mich bis heute.

Ein Laufschuh war das aber noch nicht…

…sagen wir es so: Ich bin sehr gut darin gelaufen. Es war eine leichte PU-Sohle mit Poron-Dämpfungsmaterial. Aber ja, man kann diesen Schuh aus den 90ern nicht mit heutigen Laufschuhen vergleichen. Das gilt aber auch für andere Marke. Ein Nike-Schuh aus den 80er-Jahren hat nichts mit heutigen Modellen zu tun. Mir war aber damals schon klar: Ich möchte die Idee nutzen, um richtig gute Laufschuhe zu entwickeln.

Anfang der 2000er Jahre gab es unter dem Markennahmen Bär einige Laufschuh-Modelle, die vor allem in der Ultralauf-Szene beliebt waren. Etwas schwerer als andere, aber sehr bequem...

... als wir vor 20 Jahren Ultraläufer wie Robert Wimmer und Achim Heukemes mit unseren Schuhen unterstützt haben, hat das zwar durchaus Aufsehen gebracht. Aber es gab noch kein richtiges Konzept dahinter, diese Schuhe auch großflächiger in den Markt zu bringen. Wir haben aber wahnsinnig viele Erfahrungen gemacht. Ich durfte selbst zweimal Team-Captain für Wimmer und Heukemes bei ihren Teilnahmen am Badwater Ultramarathon durch das „Tal des Todes“ sein. Das sind wirklich extremste Bedingungen dort im Death-Valley-Nationalpark in der Mojave-Wüste. Top-Ultraläufer wie Dean Karnazes und andere quälen sich bei Temperaturen nahe 50 Grad in ihren Schuhen. Blutige Füße sind dort normal. Unsere Athleten sind mit nur einem Paar unseres Modells durchs Rennen gekommen – und hatten keine Probleme mit den Füßen. Das konnten die anderen Läuferinnen und Läufer nicht begreifen. Dennoch war es damals nicht so leicht, diese Erfahrung und den Nutzen unserer Produkte nachhaltig zu etablieren. Wir waren der Zeit vielleicht einfach ein bisschen voraus.

Und deshalb brauchte es die neue Marke Joe Nimble?

Die Marke Bär war ein Bequemschuhhersteller. Die Erfahrung und die bestehende Expertise haben uns viele Vorteile gebracht. Um aber eine neue Zielgruppe, also die der Läufer, zu erschließen, brauchte es meiner Meinung nach eine neue, frische Marke. Deshalb haben wir schließlich Joe Nimble gegründet. Nur die breite Zehenbox war nicht verhandelbar.

© Joe Nimble

Wer ist Joe Nimble?

Wir wollten das persönliche, das unsere Familie ausmacht, in einen Markennamen übertragen. Mit dem Namen Bär war das schwierig. „Nimble“ heißt so viel wie agil, dynamisch, wendig. Das hat mir gefallen. Gleichzeitig wollten wir, dass man sich mit der Marke identifizieren kann – deshalb sollte „Nimble“ einen Vornamen bekommen, der sympathisch und überall auf der Welt zuhause ist. Das ist der „Joe“ geworden.

Sebastian Bär

Als Laufschuhherstelller hat man es nicht leicht. Es gibt annähernd 40 Hersteller, die in Deutschland Laufschuhe vertreiben. Darunter Giganten wie Nike oder Adidas. Wie wichtig ist es, eine Nische zu besetzen?

Wir haben bei der Entwicklung des neuen Ultreya natürlich auch mit vielen Konsumenten gesprochen. Die Aussagen sind schon interessant. Viele sind mit dem riesigen Angebot überfordert. Die Aussagen vieler Hersteller sind sehr ähnlich. Sich heutzutage vom Mitbewerber zu unterscheiden, ist wirklich nicht einfach. Schon deshalb fühlen wir uns in der Nische, die wir besetzen, sehr wohl. Unser Thema Zehenfreiheit kombiniert mit der sportlichen Ausrichtung besetzt in dieser Klarheit keine andere Marke. Diesen Nutzen können wir in unserer Nische authentisch ausspielen. Für mich gilt hier der Spruch: Schuster bleib bei deinen Leisten. Unsere Aufgabe ist es, immer mehr Menschen vom Benefit der Zehenfreiheit zu überzeugen.

Der UItreya ist vielleicht der sportlichste Laufschuh, den Joe Nimble bislang entwickelt hat. Er vereint Performance und viele Aspekte, die man heute über gesundes Laufen weiß. Wie bekommt man diese beiden Themen zusammen?

Im Ultreya steckt meine über Jahrzehnte gesammelte Erfahrung. Ich bin der Meinung, dass man zunächst eine Vision braucht, um ein richtig gutes Produkt zu fertigen. Unsere Vision hieß: Nature perfected. Jetzt kann man natürlich sagen: Die Natur kann man nicht perfektionieren. Das stimmt zum Teil, aber wir versuchen, gesundes Laufen ohne Schmerzen in jedem Alter zu ermöglichen. Unsere Fußstruktur ist das Vorbild aus der Natur. Die Zehenfreiheit ist die Basis für einen gesunden Laufstil. Nun haben wir überlegt, wie uns Technologie helfen kann, den Fuß bei seiner Arbeit zu unterstützen. Wir haben für die Mittelsohle einen Dual-Density Schaum auf höchstem Niveau entwickelt, den nmbl-Foam. Das ist ein Schaum, der absolut mit den Entwicklungen der großen Konzerne mithalten kann.

Wir haben ja in den vergangenen Jahren erlebt, welche Schwierigkeiten die Produktion in Fernost mit sich bringen kann…

… das ist der eine Punkt. Ich bin aber auch der Meinung, dass wir unser Know-how, das wir hier entwickeln, nicht immer auf dem Silber-Tablett in die Welt verschenken sollten. In der aktuellen Situation bin ich froh, dass wir kurze Wege bei Entwicklung und Produktion haben. Und alle reden von Nachhaltigkeit. Dazu gehören für mich auch möglichst kurze Strecken.

Was war die größte Herausforderung in der Entwicklung?

Natürlich waren die Corona-Maßnahmen in den vergangenen beiden Jahren und der Ausbruch des Krieges im Februar riesige Herausforderungen. Wir hatten es mit schwer kalkulierbaren Lieferketten zu tun. Auch aus diesem Grund bin ich sehr froh, dass wir den Ultreya in Deutschland entwickelt haben.

Aber die breite Zehenbox ist nicht verhandelbar…

… weil es so wichtig für eine natürliche Stabilität beim Laufen ist. Wir müssen beachten, dass in der Abstoßphase das zwei- bis dreifache des Körpergewichts auf den filigranen Strukturen unserer Füße lastet. Es gibt genau dann ein Problem, sobald der große Zeh durch den Schuh in dieser Phase nach innen gebogen ist. Dann habe ich keinen natürlichen Stabilisator mehr, der mich vor der Überpronation stützt. Bietet der Schuh aber Zehenfreiheit, habe ich diese Stabilität, die der Körper benötigt. Anders gesagt: Ich vermeide, dass ich auf einer instabilen Basis laufen. Instabilität mündet meistens in Überlastungen an anderer Stelle im Körper und führt oft zu Verletzungen. Dem kann ich entgegenwirken, wenn mein Laufschuh viel Zehenfreiheit bietet.

© Joe Nimble

Das Mittelsohlenmaterial gilt als eines der reaktivsten auf dem Markt. Warum war dir die Beschaffenheit der Sohle so wichtig?

Ich wollte, dass der Ultreya ein Schuh wird, der eine lange Haltbarkeit hat. Das sieht dann so aus, dass man im ersten Briefing an den Hersteller seine Vorstellungen durchgibt. Dann gibt es irgendwann erste Muster mit verschiedenen Einstellungen. Daraufhin prüfen wir Gewicht, Reaktivität und Dämpfung. Danach geht es in die Feinabstimmung. Wir erzielen mit unserem Schaum aus Polyurethan ein zehnmal höheres Compression-Set als bei Sohlen mit EVA. Das war mir wichtig. Die Sohle ist zwar etwas schwerer als viel EVA-Sohlen, aber der Schaum hält dafür wirklich sehr lange. Nicht nur über Monate hinweg, auch in sehr langen Rennen liefert dieser Schaum konstant seinen hohen Energy-Return.

Laufschuhe haben sich immer wieder verändert. Technologien kamen und gingen. Wie anpassungsfähig muss man heute sein? Muss man auf jeden Trend aufspringen?

Bei uns im Büro hängt ein großes Neon-Schild – darauf steht: „No Fluff“. Das ist meine Herangehensweise. Ich will nicht irgendwas versprechen, was nicht zu beweisen ist. Bei der Schuhentwicklung arbeiten wir eng mit dem Biomechaniker und Coach Lee Saxby zusammen, er ist für mich eine große Inspiration, weil er nur das umsetzt, was auch wissenschaftlich belegbar ist. Und ganz nebenbei große Erfahrung und ein gutes Gespür für nachhaltige Entwicklungen mitbringt. Es gibt immer wieder Trends, die kommen und gehen, davon lass ich mich aber nicht beeinflussen. Wenn ich etwas nicht verstehe, kann ich es auch nicht verkaufen und kann auch nicht dahinterstehen.

Habt ihr schon neue Modelle in der Pipeline?

Wir haben mit dem Ultreya erstmal ein Top-Produkt im Markt, auf dem wir uns aber natürlich nicht ausruhen. Dennoch geht es für uns nun erstmal darum, mit dem Ultreya auch den Benefit der Zehenfreiheit zu kommunizieren. Da gibt es noch Luft nach oben. Ich hoffe daher, dass alle Läuferinnen und Läufer verstehen, wie wichtig es ist, den Fuß auf natürliche Art und Weise zu stabilisieren.