Bewegende Geschichte
Dem Gehirntumor davon gelaufen

| Text: Natascha Marakovits | Fotos: Under Armour

Mit Anfang 30 wurde bei Kyle Dietz ein Gehirntumor entdeckt. Nach der Operation war er erblindet und konnte nichts hören. Fast alle Erinnerungen an sein Leben davor waren ausgelöscht. Trotzdem finishte der ehemalige US-Wrestler nur viereinhalb Monate nach der Operation einen 50 Kilometer langen Ultratrail.

Mit Anfang 30 wurde bei Kyle Dietz ein Gehirntumor entdeckt, der so groß war wie eine Grapefruit. Nach der Operation war er erblindet und konnte nichts hören. Fast alle Erinnerungen an sein Leben davor waren ausgelöscht. Trotzdem finishte der ehemalige US-Wrestler nur viereinhalb Monate nach der Operation einen 50 Kilometer langen Ultratrail. Hier liest du, wie das Laufen Kyle Dietz geholfen hat, in ein sportliches Leben zurückzufinden.

Als Kyle Dietz am 2. Dezember 2018 aufwachte, wusste er: Etwas stimmt nicht mit ihm. „Ich konnte nichts hören, hatte nur ein Klingeln im Ohr.“ Weil sich sein Zustand nicht besserte, fuhr ihn sein Vater ins Krankenhaus. Noch am selben Tag lieferte eine Computertomographie die niederschmetternde Diagnose: Gehirntumor.

„Ich hatte einen Tumor von der Größe einer Grapefruit, der ein Drittel meines Gehirns verdrängt hatte. Er dürfte über acht Jahre gewachsen sein und befand sich nun bereits in einem weit fortgeschrittenen Stadium“, erzählt der heute 33-Jährige, der mit seiner Familie im US-Bundesstaat Iowa lebt. Dass etwas mit ihm nicht stimmte, hatte sein Umfeld schon Monate vor jenem 2. Dezember bemerkt. Er lief weniger, war müde und schlief viel. Außerdem hatte er oft Kopfschmerzen.

Doch die Symptome waren nie so schlimm, dass er einen Arzt aufsuchte. Bis es schließlich nicht mehr anders ging. „Nach der Diagnose, habe ich gar nichts gefühlt. Mein Gehirn war nicht in der Lage, das zu realisieren.“ Schon drei Tage später lag er auf dem OP-Tisch.

„Ich erkannte meine Freundin nicht mehr“

Mit der Entfernung des Tumors wurden auch die Erinnerungen an sein bisheriges Leben ausgelöscht. Als er nach der Operation aufwachte erkannte er seine Freundin nicht wieder. „Ich kann mich an nichts erinnern, was davor in meinem Leben passiert ist.“ Kyle konnte sich weder erinnern, wann und wo er seine Freundin kennengelernt hatte, noch wie sein Leben davor ausgesehen hatte. „Ich weiß nur etwas darüber, weil mir meine Familie sehr viel erzählt und mir sehr viele Fotos von damals gezeigt hat.“

Sein ganzes soziales Umfeld half ihm in dieser Zeit, sein altes Leben zu rekonstruieren. In seine damalige Freundin und heutige Frau musste er sich erst wieder neu verlieben. Es hat geklappt. Heute sind sie unzertrennlich. Kyle kann sich ein Leben ohne sie nicht vorstellen.

Das Laufen spielte schon vor der Erkrankung eine wichtige Rolle in seinem Leben. In seiner Karriere als Profi-Kampfsportler – Kyle Dietz war einer der besten Martial Arts-Kämpfer – hat er das Laufen genutzt, um sich fit zu halten und sein Gewicht zu kontrollieren. Als seine Profikarriere zu Ende war, nahm ihn ein Freund zum Traillaufen mit. Kyle war sofort fasziniert. Damit hatte er eine neue Herausforderung gefunden. Und wie auch im Kampfsport lautete hier seine Devise: alles oder nichts. „Ich möchte mich selbst herausfordern und immer mein Bestes geben.“

Dass er einer ist, der sich nicht von seinem Weg abbringen lässt, bewies er nach seiner Operation im Dezember 2018 besonders eindrucksvoll. Die Operation hatte in seinem Gehirn nicht nur alle Erinnerungen ausgelöscht, sondern auch viele Körperfunktionen. Kyle musste fast alles neu lernen. „Ich konnte nicht sehen, nicht hören, nicht gehen. Es war schrecklich.“

Schritt für Schritt zurück ins Leben

Jeder aus seiner Familie spielte in dieser Zeit eine wichtige Rolle. Schritt für Schritt fand er zurück in sein Leben, das jedoch nie mehr so sein wird, wie es einmal war. „Mein Vater hat mir geholfen, dass ich wieder gehen lernte. Zuerst war die größte Herausforderung, überhaupt aufzustehen. Das haben wir jeden Tag so lange geübt, bis es immer besser ging und ich erstmals ein paar Schritte gehen konnte.“

Es war ein mühsamer Prozess. Doch Kyle wäre kein richtiger Sportler, wenn er nicht versuchen würde, seine Grenzen zu überwinden. So gelang das Gehen immer besser und die Strecken wurden länger. „Als wir das erste Mal bis zum Ende des Häuserblocks gegangen sind, hat es sich angefühlt, als hätte ich einen 100 Kilometer langen Ultralauf hinter mir“, erzählt er.

Er musste sein Gehirn wieder auf Trab bringen und sein Gedächtnis trainieren. Dabei half ihm vor allem seine Tochter. „Ich habe mit ihr alles mögliche gespielt, auch Puzzles waren sehr hilfreich.“ Nach und nach ging es Kyle immer besser, eines fehlte ihm aber: das Augenlicht. „Das war das Schwerste für mich. Es war mir egal, ob ich jemals wieder hören können würde. Aber ich wollte wieder sehen.“

„Wenn es mir schlecht geht, trainiere ich härter“

Doch auch die Blindheit konnte ihn nicht davon abbringen, wieder das zu tun, was er vor der Operation so sehr geliebt hatte: Traillaufen. Nur viereinhalb Monate nachdem der Tumor in seinem Kopf entfernt worden war, stand Kyle wieder an einer Startlinie. Nein, kein fünf oder zehn Kilometer langer Volkslauf. Kyle liebte immer noch die Herausforderung. Für sein Laufcomeback hatte er sich das Earth Day Race im US-Bundesstaat Illinois ausgesucht. 50 Kilometer geht es dabei auf mitunter sehr schmalen Trails durch die Natur.

Zu diesem Zeitpunkt konnte er immer noch nicht sehen. Dass er daran teilnehmen konnte, verdankte er seiner Freundin. „Kelly ist davor eigentlich nicht wirklich gelaufen, hin und wieder hat sie zwar an Straßenläufen teilgenommen, aber die waren kaum länger als fünf Kilometer. Und dann hat sie es wegen mir durchgezogen“, sagt Kyle. „Sie ist verdammt stark – ein Biest.“ Hand in Hand liefen sie schließlich ins Ziel, weinend und lachend gleichzeitig. „Es war sehr emotional für uns beide“, erinnert sich der 33-Jährige.

Im August 2019 nahmen beide am TransRockies Run in Colorado teil. In drei Tagen absolvierten die beiden 58,6 Meilen, knapp 100 Kilometer. Wieder Hand in Hand. Mit einer Besonderheit: Dieses Mal trug Kelly einen Ring am Finger. „Bei einem lockeren Lauf kurz davor habe ich ihr einen Antrag gemacht. Und sie hat ja gesagt. Sie hat so viel getan für mich, sie ist die Beste.“

Es hat sich viel verändert in Kyles Leben. „Ich habe nie ein Team gehabt im Sport, habe immer alleine trainiert. Jetzt habe ich ein Team für mein Leben. Meine Familie, meine Freunde, sind das beste Team. Mit ihnen bin ich nicht zu stoppen.“

Gemeinsam mit ihnen hat sich Kyle zurück ins Leben gekämpft. Heute läuft er täglich, knapp 60 Kilometer in der Woche. Das macht ihn glücklich, auch wenn er noch immer mit den Folgeschäden des Tumors leben muss. Sein Sehvermögen ist nur etwa zu 70 Prozent wieder vorhanden. Sein Blick ist trüb, verschwommen, Details kann er nicht erkennen. So muss ihm seine Freundin zum Beispiel zeigen, welchen Socken er links anziehen muss.

Kyle hat sich damit arrangiert. „Ich lebe im hier und jetzt und nehme jedes Hindernis an, das kommt, und gebe nicht auf. Ich habe dieses Feuer in mir, das brennt. Wenn es mir schlecht geht, trainiere ich härter. Es bringt nichts, darüber nachzudenken, was früher war. Mein Ziel ist es, besser zu werden. Ich möchte ein besserer Vater, ein besserer Ehemann und ein besserer Athlet sein.“