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1,8 Millionen gesammelt
Duisburgs „Marathonpater“ Tobias Breer: Der Läufer des Herrn

| Text: Tom Rottenberg | Fotos: Daniel Elke

Pater Tobias Breer ist der „Marathonpater“: Seit seinem ersten Marathon 2006 lief Gottes eiligster Diener unzählige Marathons – und sammelte über 1,8 Millionen Euro für Kinder- und Sozialprojekte.

Eine Frage kann man sich bei Pater Tobias eigentlich sparen. Obwohl es jene ist, die man jemandem, der gerne, viel und weit läuft in der Regel sehr bald stellt: Die nach der Zahl der „gefinishten“ Wettbewerbe. Insbesondere die, nach den Marathons.

Langdistanzläufer strahlen dann. Dann nennen sie eine Zahl – und erzählen. Und mit jedem Satz wird das stolze, glückliche Leuchten ihrer Augen stärker. Das gilt für Läuferinnen natürlich genauso: Wer je auch nur einen Marathon gelaufen ist, kennt und versteht das.

170 Marathons (oder mehr) seit 2006

Tobias Andreas Breer ist in dieser Hinsicht ein ganz normaler Läufer. Trotzdem kann man sich in einem Interview mit Deutschlands „Marathonpater“ die Frage sparen. Nicht, weil Pater Tobias prahlt oder flunkert. Auch nicht, weil er es nicht genau wüsste. Sondern aus einem ganz anderen Grund: Zu dem Zeitpunkt, zu dem man die Zahl, die der Duisburger Geistliche nennt, dann niederschreibt, ist sie mit ziemlicher Sicherheit falsch. Und in dem Moment, in dem du sie hier liest, gehört sie schon lange der Vergangenheit an.

Wieso? Weil Pater Tobias so viel, so oft läuft: Am 19. Februar 2023 – am Tag an dem dieser Text entsteht – absolvierte Pater Tobias seinen 170. Marathon. Den „Balkanstraßen-Marathon“ in Opladen. 4:26:44 Stunden. Seinen ersten lief er 2006 – in Berlin. In praktisch der gleichen Zeit (knapp über 4:25 h). Aber um Zeiten geht es ihm, nicht: Was zählt ist die Häufigkeit sowie die Freude an jedem einzelnen Lauf. Und das, was Gottes flinkster Diener mit seinem Laufen bezweckt.

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Durchschnittlich zehn Marathons pro Jahr

Pater Tobias läuft viel: Im Schnitt waren es von Ende 2006 bis Februar 2023 über zehn Marathons im Jahr. Aber 2022 war dann sogar für den bald 60 Jahre alten Geistlichen extrem: Da kam er 31-mal über die Ziellinie. Das schaffen andere in einem ganzen Läuferleben nicht. Und mancher wäre froh, so viel zu verdienen, wie der Seelsorger der Neumüller Herz-Jesu-Gemeinde im Vorjahr erlief: Rund 110.000 Euro.

Wobei eines wichtig ist: Deutschlands fittester Ordensmann steckt das Geld nicht selbst ein – er läuft für karitative Institutionen, meist Kinder- und Sozialprojekte. Dass ihm das Laufen auch Freude und Spaß macht, stellt da aber keinen Widerspruch, keine Unvereinbarkeit dar, betont Duisburgs eiliger Pater. Allein schon, weil jeder Läufer, jede Läuferin weiß, dass Marathon-Form nicht aus dem Nichts kommt. Sondern jeder Wettkampf, gerade aber ein Marathon, immer auch eine Übung in Demut und Erdulden ist. Training wie Wettbewerb: Egal wie schön, egal wie glücklich man unterwegs ist – es ist auch ein Leidensweg, eine „via dolorosa“.

Beim Laufen ist er Gott nahe

Es gibt ein Ziel, Erlösung. Eine Erlösung, die nicht gewiss, nicht garantiert ist. An die man aber dennoch glaubt, die Kraft und Zuversicht gibt. Und für die man alles – nicht nur Entbehrung und Verzicht, sondern auch Schmerzen – annimmt und erträgt. „Ja, natürlich tut es manchmal weh“, sagt Pater Tobias und lächelt. Der Frage, ob Laufen also per se katholisch ist, weicht er aus: „Beim Laufen ist mir Gott, bin ich Gott nahe. Ich spüre ihn, ich rede mit ihm. In Gebeten – aber oft auch in der Stille.“

Vermutlich sollte diese Geschichte aber anderswo anfangen. Denn auch wenn Pater Tobias Andreas Breer OPraem (so der volle Name) heute zu Deutschlands bekanntesten Priestern gehört, obwohl Tausende dem umtriebigen Geistlichen auf seinen Instagram- oder Facebook-Seiten folgen, obwohl er Dauergast in Podcasts und Talkshows ist, obwohl sein Lauf-Buch („60.000 Kilometer gegen die Armut“) über 5000-mal verkauft wurde, kennt kaum jemand den Mann in der Soutane wirklich. Geschweige denn seine Geschichte.

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Mit 14 Jahren verliert er den Glauben an Gott

Denn als Ultra- oder Mehr-als-100-Marathonläufer wird man ebenso wenig geboren, wie als Priester. Beides ist ein Talent, eine Berufung – aber das anzunehmen und zu leben ist alles andere als selbstverständlich: Man muss aus Zeitgeist und gesellschaftlicher „Normalität“ ausscheren. Das braucht neben Kraft und Mut die Überzeugung, das einzig Richtige zu tun.

Pater Tobias taugt in beiden Rollen als Beispiel. Geboren wurde er als Andreas Breer 1963 in Werne an der Lippe, einer 30.000-Einwohner-Gemeinde im Kreis Unna im südlichen Münsterland. Als zweitjüngstes von sechs Kindern durchlebte er eine sorglos-normale Kindheit auf einem Bauernhof. Religion, die Kirche, spielte eine Rolle – aber keine, die einen Weg geprägt oder eine Berufung vorhersagbar gemacht hätte. Als Andreas 14 war, verlor er seine Mutter – und den Glauben.

Von BMW über den Bund zur Kirche

Der Weg zurück dauerte Jahre: Andreas Breer lernte Groß- und Einzelhandelskaufmann, arbeitete bei BMW, ging zum Bund, holte das Abi nach … nichts Außergewöhnliches. Doch mit 21 „fand ich Gott wieder“. 1984 mit 24, trat er den Prämonstratensern der Abtei Hamborn als Novize bei – hieß ab jetzt Tobias. Tobias studierte Theologie. Wurde 1993 Diakon – und 1994 zum Priester geweiht.

Sportler? „Nein“, lacht Pater Tobias, Sportler war er keiner. Eher im Gegenteil – bis in die Mitte der sogenannten „Nullerjahre“. Der Priester hatte in der Zwischenzeit auch Personalentwicklung und Change Managment studiert. „Ich habe Führungskräfte gecoacht. Sie gefragt 'wie kümmert Ihr euch um Seele und Körper?` – und am Abend in den Spiegel geschaut: Ich hatte 92 Kilo – und fragte mich, wie ich andere auffordern kann, auf sich und ihre Gesundheit zu achten, wenn ich selbst nichts mache!“

Für sich selbst sorgen, um sich besser um andere kümmern zu können

Pater Tobias entdeckte noch etwas: „Wenn ich mir etwas Gutes tue, wenn ich gesund bin und mich wohl fühle, kann ich besser Gutes tun. Besser für andere da sein.“ Der Schlüssel, erkannte der Da-Noch-nicht-Läufer, lag in Ernährung und Bewegung. „Ich suchte eine Sportart, die zu mir passte.“ Laufen entpuppte sich als perfekt: „Ich kann aus dem Büro loslaufen, den Kopf frei bekommen – und nach dem Lauf erfrischt weiterarbeiten.“ Freilich: Schon bald ließ der Pater eine Dusche einbauen. Und wenn man heute bei ihm vorbeischaut, ist auf den ersten Blick manchmal nicht klar, ob das wirklich der Arbeitsplatz eines Kirchenmannes ist – oder doch ein Sport-Laden?

Der Marathonpater schmunzelt, wenn er an seine Anfänge als Läufer zurückdenkt: Auch wenn es zunächst „nur“ Gesundheitslaufen war, spürte er rasch die Veränderung. Im Körper – und im Kopf: „Ich habe 5000 Menschen in meiner Gemeinde. Oft ist es alles andere als einfach, mit den privatesten Sorgen, Ängsten und Nöten umzugehen. Laufen ist der perfekte Ausgleich: Es hilft mir, aufzutanken. Ich kann abschalten.“ Oft schaltet der Priester beim Laufen aber auch ein. Damals wie heute: Das Mobiltelefon hat der eilige Pater nicht dabei, um erreichbar zu sein – sondern als Diktiergerät: „Ich sortiere Gedanken, plane und strukturiere meine Predigt.“

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Der erste Marathon schreckt ab – aber nur kurz

Der nächste Schritt war – im Nachhinein – logisch: „Ich habe gelesen, dass jeder Mensch einmal im Leben einen Marathon gelaufen sein sollte. Ich begann also gezielt auf dieses Ziel hin zu trainieren.“ Drei Monate später – am 26. September 2006 – lief Pater Tobias Breer in Berlin seinen ersten Marathon. Er kam nach viereinhalb Stunden stolz, aber mit einem einzigen Gedanken im Kopf, ins Ziel: „Nie wieder!“

Doch schon tags darauf sah die Welt ganz anders aus. „Die Euphorie! Der Stolz! Das war der Kick!“ Pater Tobias meldete sich für Hamburg an – und dann wurde aus einem laufenden Pater der „Marathonpater“. Dass da auch „zehn oder elf Ultras“ dabei sind, erwähnt Tobias eher nur am Rand. Obwohl er auf diese Läufe mächtig stolz ist. Besonders auf den 172-Kilometer-Lauf durch die Wüste von Oman 2018: „Die Wüste verändert dich. Du denkst, spürst und fühlst ganz anders: Jesus war 40 Tage in der Wüste – ich nur drei oder vier. Aber das ist etwas ganz Besonderes.“

Bei jedem Marathon sammelt er Geld für den guten Zweck

Pater Tobias ist ein ganz normaler Läufer: So wie Tausende andere auch fiebert er dem nächsten und dem übernächsten großen Lauf entgegen. Plant, trainiert und tüftelt an Budgets, Zeit- und Reisemanagment. Hat die „Big Six“ (Tokio, der letzte Lauf der Serie, soll im März 2023 dazu kommen), einen Zusammenschluss von sechs großen Marathons weltweit, auf dem Radar. Träumt von Läufen, die er noch auf seiner „Bucketlist“ abhaken will: Ein Marathon in der Antarktis. Ultras in Vietnam und Peru. Da gibt es Einiges. „Ich liebe es, die Natur, die Schöpfung so zu erleben.“ Kurze Pause. „Aber ich laufe auch sehr gerne in Städten.“

Nur ist da noch etwas. Etwas Zentrales: Nur Finishershirt und Medaille wären Pater Tobias zu wenig. Das könnte er auch still und bescheiden – nur für sich. Aber er spricht darüber. Laut. Eitelkeit steht aber niemandem gut zu Gesicht. Einem Mann Gottes schon gar nicht. Doch Pater Tobias läuft eben nicht „nur so für sich“: Schon bei seinem ersten Marathon, 2006 in Berlin, sammelte er Geld. Etwa 5000 Euro für Projekte seiner Gemeinde sagten regionale Firmen vorab zu. „Die lokale Presse hat das aufgenommen“, erinnert er sich. Auch an ein Detail, das er anfangs nicht bedacht hatte: „Wenn die schreiben, dass ein Priester läuft, um Projekte zu finanzieren, muss ich liefern.“

1,8 Millionen Euro hat er bislang erlaufen

Dieses System funktioniert. Das sah Pater Tobias rasch. Wie sehr überrascht ihn aber mitunter heute noch: Seit seinem Marathondebüt hat der Läufer des Herrn über 1,8 Millionen Euro erlaufen. Mehr noch: „Zu zeigen, dass man mit eigenem Einsatz für andere Gutes tun kann, motiviert immer auch andere, selbst aktiv zu werden.“ Deshalb geht Pater Tobias mit dem – natürlich kaum je offen formulierten – Vorwurf, er rücke sich für einen Mann Gottes zu sehr in den Vordergrund, entspannt um: Das Ergebnis zählt.

Dass diese „Marke“ nicht jeder leben kann, ist klar: Jemand mit Angst vor Kameras und Öffentlichkeit wäre in der Rolle falsch. Nur: Ist es eine „Rolle“, wenn jemand das Laufen liebt und erkennt, dass er damit etwas verändern kann? Ist es dann nicht genau richtig, diese Karte systematisch zu spielen?

Also sieht man Pater Tobias auf Fotos auch mit wehender Soutane und Laufschuhen. Natürlich ist das inszeniert. Doch welches Bild würde die Geschichte des laufenden Gottesmannes kompakter, griffiger erzählen?

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Ein ganzer Marathon im Kirchengewand

Abgesehen davon stimmt es sogar. Auch wenn Pater Tobias beim Laufen aussieht wie ein ganz normaler Läufer, ist er schon im „Dienstgewand“ 42,2 Kilometer gelaufen: „Da hat eine Stiftung 10.000 Euro geboten, dass ich den Rhein-Ruhr-Marathon in der Kutte laufe.“ Es hatte 25 Grad – aber der Pater lief trotzdem ganz in Weiss. „Ich hatte drunter kurze Hosen und T-Shirt an. Für den Fall, dass es unerträglich wird.“

Und dann erzählt er eine geradezu biblisch anmutende Geschichte eigener Schwäche: „Ich habe dreimal versucht, das Gewand unterwegs loszuwerden – aber niemand wollte es nehmen.“ Der Ordensmann kam im Dienstrock ins Ziel. Der Sponsor zahlte. Pater Tobias würde es wieder tun: „Auch für weniger als 10.000 Euro – es geht um die Sache.“

Und das nicht nur als Spenden sammelnder Selbst-Läufer: Dass Laufen, dass Sport vielen Menschen hilft, Sinn in ihrem Leben zu finden, wird heute gerne als Problem und Krise von Kirche, Religion und Spiritualität geframet. Als Flucht in die Oberflächlichkeit des „optimierten Körpers“ angeprangert.

Laufen mit Geflüchteten

Tobias versucht, darin eine Chance zu sehen – und geht mit verirrten Schäfchen laufen. Dass er längst zertifizierter Lauftrainer und Ernährungscoach ist, versteht sich von selbst.

Sei es, wenn er – seit 2015 – mit Geflüchteten läuft, mit ihnen die Gegend „bespricht“, so oft erste Deutschkenntnisse vermittelt und „nebenbei Menschen, die oft lange zur Untätigkeit gezwungen wären, in Kopf und Körper beschäftigt.“ Einige seiner Schützlinge von 2015 haben mittlerweile ihren zehnten Marathon in den Beinen.

Laufen hilft dabei, das Christsein im Alltag zu leben

Manchmal läuft der Seelsorger auch mit Jugendlichen aus Firm-Gruppen: „Einige haben sich das gewünscht, wir sind dann jeden Sonntag gemeinsam gelaufen: Da redet man anders. Denkt, beobachtet anders. Und das macht einen Unterschied.“

Nicht nur bei den ganz Jungen: „Viele Menschen sind auf der Suche. Natürlich wäre es fein, wenn sie in die Kirche kämen. Aber in Wirklichkeit geht es um etwas Anderes: Wichtig ist es, das Christsein im Alltag zu leben. Sich zu fragen, wie man miteinander umgeht, mit sich selbst – aber auch den Menschen rundherum. Laufen hilft dabei.“