EM Spezial: Richard Ringer greift nach der 10.000-Meter-Medaille

EM Spezial: Richard Ringer greift nach der 10.000-Meter-Medaille

| Text: Christian Ermert | Fotos: Imago

Richard Ringer läuft am ersten Finalabend (Dienstag, 7.8.) der Leichtathletik-Europameisterschaften in Berlin um eine Medaille über 10.000 Meter. Hier lernst du den 29-Jährigen kennen, der bisher die schnellste Zeit eines Europäers im EM-Jahr 2018 gelaufen ist.

Gleich am ersten Final-Abend der Leichtathletik-Europameisterschaften im Berliner Olympiastadion steht eine der aus deutscher Sicht spannendsten Laufentscheidungen an. Über 10.000 Meter geht Richard Ringer (VfB LC Friedrichshafen) von Position eins in der europäischen Jahresbestenliste aus ins Rennen. Und mit Mo Farah aus Großbritannien wird Europas überragender Läufer des vergangenen Jahrzehnts fehlen, weil er zum Marathon gewechselt ist. Hier lernst du den 29 Jahre alten Läufer kennen, der morgen Abend (7.8. um 20:20 Uhr) in einem Hitzerennen über 25 Stadionrunden Europameister werden kann.

Wenn Richard Ringer den absoluten Motivationskick braucht, schaut er sich auf YouTube ein ganz spezielles Video an. Da kommentieren Ralf Scholt und Wilfried Hark für die ARD das 10.000-Meter-Finale der EM 2006 in Göteborg: „Was für ein Finish. Jetzt kommt Jan Fitschen. Der greift die an vorne. Lauf Junge, das kann dein Rennen werden. Unfassbar. Sensationell. Jan Fitschen gewinnt Gold! Wahnsinn.“

Vor mittlerweile zwölf Jahren war der EM-Sieg des Wattenscheiders wirklich eine Sensation. Kaum einer hatte mit ihm gerechnet. Die TV-Bilder inspirierten damals auch einen 17 Jahre alten Nachwuchsläufer am Bodensee so, dass er sich vor dem eigenen Training eine Startnummer mit jener 451 malte, die Jan Fitschen bei seinem Triumph in Göteborg trug.

Für Richard Ringer ist die Situation 2018 aber eine völlig andere als für Jan Fitschen 2006. Er tritt morgen (Dienstag, 7. August) in einer der ersten Entscheidungen bei den Leichtathletik-Europameisterschaften als jahresschnellster Europäer an. Mit 27:36,52 Minuten führt er die europäische Bestenliste an. Mit der Zeit hatte er Mitte Mai den Europacup über 10.000 Meter gewonnen.

Damit hat er automatisch die Favoritenrolle übernommen. Und die nimmt der 29-Jährige auch an, der 2017 Hallen-EM-Bronze über 3000 Meter gewonnen hat. Über den Rennverlauf macht er sich keine großen Gedanken, er fühlt sich für alle Situationen gerüstet: „Wenn es langsam wird – ich habe einen guten Kick“, sagt er und spielt auf seine Herkunft als 5000-Meter-Spezialist an. Und vor einem schnellen Rennen muss er auch keine Angst haben – er hat ja schon die schnellste Zeit vorgelegt.

Seine Form hat sich seit Mai sicherlich nicht verschlechtert – auch wenn er auf den geplanten 5000-Meter-Start vor gut zwei Wochen bei den Deutschen Meisterschaften in Nürnberg verzichten musste. Eine Vorsichtsmaßnahme angesichts leichter Erkältungssymptome. „Es war eine schwere Entscheidung“, sagt Richard Ringer, der seinen fünften 5000-Meter-Titel hintereinander hätte gewinnen können. Aber er wollte im Hinblick auf die Heim-EM nichts riskieren: „Ich habe in den vergangenen Jahren ab und zu mal Wettkämpfe gemacht, wenn ich leicht angeschlagen war. Das Rennen lief dann meistens ganz gut, aber danach war ich dann voll krank.“

Das ist ihm diesmal nicht passiert. Topfit präsentiert sich der 1,80 Meter große und 62 Kilo leichte Läufer in den letzten Tagen vor der EM. Hinter ihm liegen Monate der Vorbereitung, in denen er sich zum ersten Mal komplett auf den Sport konzentrieren konnte. 2012 hatte er sein BWL-Studium abgeschlossen. Danach trat er einen Teilzeit-Job bei MTU an. Bei dem Maschinenbau-Unternehmen in Friedrichshafen arbeitete er als Controller für neue Produkte. In dieser Zeit hatte er allerdings öfter das Gefühl, bei den ganz großen Events nicht in Top-Form gewesen zu sein. 2016 holte er bei den Europameisterschaften in Amsterdam Bronze über 5000 Meter, aber bei den Olympischen Spielen in Rio schied er einige Wochen später im Vorlauf aus.

Deshalb suchte er knapp ein Jahr vor der EM in Berlin das Gespräch mit seinem Arbeitgeber: „Ich wollte mir nicht nachsagen lassen, nicht alles für die Heim-EM versucht zu haben.“ Und gemeinsam fand man eine Lösung: Richard Ringer ist für ein Jahr von der Arbeit freigestellt, sein Gehalt wird weitergezahlt, er muss die ausgefallenen Stunden aber nach der EM Berlin nacharbeiten. „So viele Stunden sind das aber gar nicht, weil die Sporthilfe mein Gehalt für durch Trainingslager bedingte Fehlzeiten an den Arbeitgeber zurückzahlt.“

Und im Trainingslager war Richard Ringer in der EM-Vorbereitung oft. Drei Wochen Dullstroom (Südafrika) im Herbst, vier Wochen Flagstaff (USA) im Frühjahr und dann noch mal drei Wochen St. Moritz (Schweiz) im Sommer. Einen Großteil des Trainings hat Richard Ringer in Höhen um die 2000 Meter absolviert. Es waren gleichzeitig seine ersten Erfahrungen mit Höhentraining. „Das lief wunderbar“, freut er sich. Das Training wurde über Laktatwerte exakt gesteuert, meistens hat er zusammen mit Hindernisläufer Martin Grau trainiert, der ebenfalls am ersten EM-Tag (7.8.; 11:40 Uhr) zu seinem Vorlauf über 3000 Meter Hindernis antritt. Der Deutsche Leichtathletik-Verband hat diese gemeinsamen Trainingslager angeboten und legt großen Wert auf die Teilnahme der Top-Läufer. „Ich finde es gut, dass nicht jeder mehr sein eigenes Süppchen kocht. Die vielen gemeinsamen Trainingsläufe bringen alle nach vorn“, sagt Richard Ringer.

Zumal 2018 das erste Jahr ist, das Richard Ringer ohne Trainer bestreitet. Ende 2017 hat er sich von seinem langjährigen Coach Eckhardt Sperlich getrennt. Allerdings nicht, weil ihm dessen Trainingsphilosophie nicht mehr gefallen hätte – im Gegenteil: Im Oktober haben die beiden noch das Grobkonzept für die einzelnen Wochen erstellt. Neu sind in Richard Ringers Training im Wesentlichen zwei Punkte: Doppelbelastungen, bei denen er an zwei aufeinanderfolgenden Tagen harte Trainingsläufe – wie Bergaufläufe und Tempoläufe auf der Bahn – absolviert. Damit hat er sich die Tempohärte erarbeitet, die ihm bisher noch fehlte. „Ausdauer war noch nie mein Problem“, sagt er.

Und das anstrengende Training wurde von abends auf morgens verlegt. Bei Eckhardt Sperlich wurde am Nachmittag hart trainiert. „Ich bin nicht mehr an Trainingszeiten gebunden, und wenn ich in der Früh hart trainiere, nutze ich den Tag schon zur Regeneration, schlafe besser und kann am nächsten Tag schon wieder gut trainieren.“

Überhaupt die Regeneration. Dass in der Erholung zwischen den Trainingseinheiten der Schlüssel zur Weiterentwicklung von Leistung liegt, darin sind sich die Experten einig. Und auch Richard Ringer sieht an dieser Stelle den größten Vorteil seiner Freistellung von der Arbeit: „Die Regeneration zwischen den Einheiten funktioniert besser, wenn man mittags nach einer harten Einheit schlafen kann, statt arbeiten zu gehen. Ich bin ausgeruhter. Das hat mir den größten Schub gegeben. Wenn zu einer harten Trainingswoche auch noch 30 Stunden Arbeit kommen, fehlt oft die Zeit zur Regeneration und dann wird man auch schnell mal krank.“

Als Trainer die eigene Freundin zur EM gebracht

Sein eigenes Training ist allerdings nicht das einzige, das Richard Ringer steuert. Er trainiert auch noch seine Freundin: Nada-Ina Pauer aus Österreich. Die Juristin, die in einer Anwaltskanzlei in Bregenz eine Teilzeitstelle hat, hat sich über 5000 Meter unter der Ägide ihres Lebensgefährten von 16:10,77 auf 15:40,61 Minuten gesteigert und startet auch bei der EM in Berlin. Morgen Abend kann sie sich allerdings noch ganz darauf konzentrieren, ihren Freund anzufeuern. Während er gleich am ersten Finalabend der EM dran ist, muss sie auf ihren Start bis zum letzten EM-Tag warten.

Richard Ringer ist ganz froh, dieses Warten dieses Jahr nicht zu haben. Und wenn seine Freundin läuft, kann er sich ganz auf ihr Rennen konzentrieren. Er plant zwar, nach den 10.000 Metern auch noch über 5000 Meter an den Start zu gehen. Aber dieses Finale ist bereits am Samstag und er verschenkt daran vor seinem 10.000-Meter-Start keinen Gedanken. Sein Fokus gilt ganz den 25 Runden. Und vielleicht entstehen am Dienstagabend ja wieder Fernsehbilder, die eine neue Generation von Läufer so motivieren, wie es die Bilder von Jan Fitschen vor zwölf Jahren mit Richard Ringer gemacht haben.