Erster Berliner Neujahrslauf durchs Brandenburger Tor

Vor 30 Jahren
Erster Berliner Neujahrslauf durchs Brandenburger Tor

| Text: Jörg Wenig | Fotos: imago images, Race News Service
Vor 30 Jahren liefen 25.000 am Brandenburger Tor durch Ost und West. Beim ersten Gesamt-Berliner Neujahrslauf am 1. Januar 1990. Der Lauf wird bis heute vom SCC Berlin veranstaltet, dem Verein hinter dem Berlin-Marathon. Nach dem Fall der Mauer am 9. November 1989 sorgte der Lauf für internationale Schlagzeilen.
Nach dem Fall der Mauer begann der fulminante Aufstieg des Berlin-Marathons. Der Lauf durch die einst geteilte Stadt entwickelte sich über die Jahre zu einem der spektakulärsten Straßenrennen und später zum schnellsten Marathon der Welt. Doch nach dem Fall der Mauer am 9. November 1989 war es zunächst ein anderes Rennen, das im Blickpunkt stand und internationale Schlagzeilen produzierte: Am 1. Januar 1990 veranstaltete der SC Charlottenburg, der Verein, der heute noch hinter dem Berlin-Marathon steht, den ersten Gesamt-Berliner Neujahrslauf.

Die Strecke führte durch die aufgebrochene Mauer

Die Strecke führte vor 30 Jahren am Brandenburger Tor durch Ost und West. Das Rennen findet heute noch statt, allerdings in wesentlich kleineren Dimensionen. Am Neujahrstag 1990 liefen rund 25.000 Menschen im Herzen der wiedervereinten Stadt, heute sind es einige tausend, die das Neue Jahr auf der rund vier Kilometer langen Strecke im lockeren Joggingtempo sportlich beginnen.
 
Dass es 1989 nur wenige Wochen nach dem Fall der Mauer möglich wäre, ein solches Rennen auf die Beine zu stellen, hielt niemand für realistisch, es grenzte an Utopie. Doch am 1. Januar 1990 wurde der Traum Wirklichkeit: Die Strecke führte seitlich des Brandenburger Tores durch die aufgebrochene Mauer und die DDR-Volkspolizisten klatschten unter den Augen des damaligen Präsidenten des Internationalen Leichtathletik-Verbandes (IAAF), Primo Nebiolo, Beifall. Den Startschuss hatten die beiden Berliner Bürgermeister, Walter Momper (West) und Erhard Krack (Ost), gegeben.

Initiator Horst Milde erinnert sich an die Anfänge

Horst Milde, der damalige Organisationschef und Initiator der großen SCC-Straßenrennen, schreibt hier in Erinnerungen und Anekdoten, über den Berliner Neujahrslauf 1990. Schon Stunden nach dem Fall der Mauer entstand die Idee für dieses einmalige Rennen.

„Die Idee zum Berliner Neujahrslauf stammte von Michael Coleman, der mich am 10. November etwa um 9 Uhr aus London anrief. Er kam seit Jahren als Journalist der „Times“ zum Berlin-Marathon und erklärte mir, ich müsste unbedingt einen Neujahrslauf am 1. Januar 1990 vom Olympiastadion zum Roten Rathaus organisieren, wobei ich nur meinte, eigentlich habe ich jetzt gerade etwas anderes im Kopf. Plötzlich war Berlin nicht nur politisch sondern auch in sportlicher Hinsicht in aller Munde.
 
Mit dem Crosslauf fing es an
 
Noch am Freitag, dem 10. November, schickte ich per Fax einen Pressedienst an die Medien mit der Überschrift: ,Kostenlose Teilnahmemöglichkeit für DDR-Läufer beim Crosslauf’. Dieses Traditionsrennen veranstalteten wir am 12. November am Teufelsberg.“ Tatsächlich kamen nur drei Tage nach dem Fall der Mauer etliche Läufer aus der DDR zu dem Crosslauf im Grunewald. „Nach dem Crosslauf trafen wir - Roland Winkler aus Ost-Berlin, Gerd Engel aus Stendal, Dr. Detlef Dalk aus Zepernick und Olaf Pilz - uns bei mir zu Hause zum Kaffeetrinken mit Kuchen und beschlossen am 1.1.1990 den 1. Gesamt-Berliner Neujahrslauf zu organisieren: Start 14 Uhr, Startort Straße des 17. Juni.
 
Ein symbolischer Auftakt für die Läufer aus beiden Teilen Berlins sollte es sein. Und auch am 30. September 1990 sollte der 17. Berlin-Marathon unbedingt durch beide Teile Berlins und das Brandenburger Tor führen. Die neu gegründete „Initiativgruppe der DDR“ schrieb an den Oberbürgermeister der Haupstadt der DDR, Erhard Krack, und ich an den Regierenden Bürgermeister Walter Momper mit der Bitte, diese Idee und Initiative zu unterstützen und zur Realisierung beizutragen. Die beiden Bürgermeister sollten gemeinsam den Startschuss abgeben.“
 
Beim Überlaufen der Grenze sollten die Pässe gestempelt werden
 
Es folgten zahlreiche Termine mit Behörden in Ost und West. „Schwer in Erinnerung geblieben ist mir ein Treffen im Volkspolizeipräsidium (Grenztruppen) am Alexanderplatz. Das Gebäude zu betreten, war schon beängstigend aufgrund der vielen Kameras und Bewachern. Am Verhandlungstisch saßen, neben Stefan Senkel (Ost-Berlin) und meinem Sohn Karsten, zehn bis zwölf DDR-Offiziere beziehungsweise -Generäle, für die meine Vorstellungen, einen Lauf in West-und Ost-Berlin zu organisieren, wohl ein Stück aus dem Tollhaus waren.
 

Ein Knaller zum Jahresbeginn 1990

Mit einem Fahrzeug und einem Funkgerät vorneweg zu fahren sei ein ,Ding der Unmöglichkeit’ in Ost-Berlin. Alle Ausländer, die am Lauf teilnehmen wollen, müssten über den ,Checkpoint Charlie’ ein- und ausreisen, beim Überlaufen der Grenze am Brandenburger Tor am 1.1.1990 müssten die ,Pässe gestempelt’ werden, wurde uns gesagt. Ich stellte die ganz einfache Gegenfrage, wie man das bei erwarteten 10 bis 20.000 Teilnehmern machen sollte. Ich versuchte zu erklären, wie derartige Straßenläufe in Berlin (West) üblicherweise über die Bühne gehen, was wohl Fassungslosigkeit auf Seiten der volkspolizeilichen Obrigkeit hervorrief.“
 
Am 14. Dezember wurde das Rennen offiziell bekannt gemacht
 
Am 14. Dezember veröffentlichte Horst Milde eine Pressemitteilung mit der Überschrift: Der KNALLER zum Jahresbeginn 1990: Gesamt-Berliner NEUJAHRSLAUF perfekt! Unter anderem hieß es: „Mit einem Paukenschlag beginnen die Leichtathleten aus beiden Teilen Berlins das Neue Jahr 1990 … damit wird es nach über 40 Jahren der Trennung zum ersten Mal einen grenzüberschreitenden Lauf geben. 1949 gab es die letzte Auflage der 25 km von ,Quer durch Berlin’, die durch beide Teile Berlins führte.“ Am 14. Dezember 1989 war noch nicht klar, ob das Brandenburger Tor geöffnet sein würde, deswegen war den Behörden vorgeschlagen worden, eine alternative Route über den Potsdamer Platz zu laufen. Die Veranstalter verzichteten auf ein Startgeld und baten stattdessen um Spenden für Unicef.
 
Mauer-Durchbrüche am Brandenburger Tor kurz vor Weihnachten
 
Inzwischen kündigte sich ein ,Run’ auf den Berliner Neujahrslauf an. Journalisten aus aller Welt meldeten sich, um bei diesem einzigartigen Ereignis dabei zu sein, obwohl überhaupt noch nicht feststand, wie die Organisation gemeistert werden sollte. Stefan Senkel organisierte mit der Ost-Berliner ,Laufkommission’ den Ablauf mit Ordnern und so weiter in den Straßen Ost-Berlins, während ich mit dem Organisationsteam des Berlin-Marathons für den Ablauf in West-Berlin verantwortlich war. Als Sponsor für den Lauf wurde die ,Berliner Bank’ gewonnen, die den Druck der Startnummern und Urkunden finanzierte und in ihren Filialen die Startnummern schon vorher ausgab.
 
Die lang erwartete Sensation gab es dann zwei Tage vor Weihnachten: Der Durchbruch der Mauer rechts und links des Brandenburger Tores wurde offiziell bekannt gegeben im Zusammenhang mit dem Treffen von Bundeskanzler Helmut Kohl und DDR-Regierungschef Hans Modrow. Nach 28 Jahren war es wieder möglich durch die Säulen des Tores zu gehen.
 
Am 27. Dezember 1989 gab es dann eine Ortsbesichtigung mit der Volkspolizei am Brandenburger Tor. Für mich war wichtig, dass der Lauf nicht nur durch die beiden neuen Durchbrüche der Mauer verlief, sondern daß die Teilnehmer auch durch das Brandenburger Tor laufen konnten. Das hieß, sie mussten durch den Engpass der Mauer, dann praktisch zurücklaufen, dann wieder eine Wende machen, um dann durch die Säulen des Brandenburger Tors laufen zu können. Diesen ,Slalomlauf’ störten aber die Aufenthaltshäuschen der Grenztruppen, wobei ich mir bei der Begehung die Bemerkung erlaubte, ,die müssen aber hier auch noch weg’. Das schien utopisch – aber am 1. Januar waren die Häuschen tatsächlich weg – und die Utopie des freien Laufens durch das Brandenburger Tor war Wirklichkeit.
 
Unbeschreiblicher Andrang, Emotionen und Tränen der Rührung
 
Ein großes Problem war am Neujahrstag die gewaltige Menge von Abfall aus der Silvesternacht, angefangen von Feuerwerkskörpern bis zu Flaschen und Scherben. Während in West-Berlin die Stadtreinigung schon schwer am Aufräumen war, passierte in Ost-Berlin zunächst wenig. Doch um 13.30 Uhr teilte mir mein Sohn, der mit dem Führungsfahrzeug auf der Ostseite des Brandenburger Tores stand, per Funksprechgerät (!) mit, dass jetzt der Pariser Platz und die weiterführenden Straßen gereinigt seien. Der Andrang von Teilnehmern aus aller Welt war unbeschreiblich, eine geordnete Aufstellung wie bei einem wettkampfmäßigen Lauf war durch die hochgehenden Emotionen nicht möglich. Der Versuch, die Läufer hinter die Startlinie - ein Kreidestrich auf der Fahrbahn - zu ,schieben’ erwies sich als undurchführbar. Warum auch – es ging schließlich nicht um Sieg und Niederlage!
 
Berlins Regierender Bürgermeister Walter Momper und der Oberbürgermeister Erhard Krack waren pünktlich zu Stelle. Sie standen auf einem kleinen Podest in der Mitte der Straße und gaben den Startschuss ab. Es war dabei ein unglaubliches Gedränge, so dass Fotografen keine Chance hatten den gemeinsamen Startschuss aufzunehmen. Es sollte gemächlich gelaufen werden. Doch an der Spitze des Laufes waren natürlich die Übereifrigen, die besonders schnell sein wollten und dem Führungswagen fast auf und davon liefen. An der Staatsoper stand, soweit ich das in Erinnerung habe, eine Kapelle, die Musik machte und vom Vereinskameraden Christian F. Ziervogel auf nicht bekanntem Weg dorthin beordert worden war.“
 
Der Lauf durch die Mauer und dann durch die Säulen des Brandenburger Tors zum Roten Rathaus und zurück war eine hoch emotionale und gefühlsbeladene ,Zeremonie’ für die Teilnehmer aus vielen Nationen, für die Zuschauer und die Medien, die dieses einmalige Ereignis auch durch Live-TV-Bilder in alle Welt verbreiteten. Eine Einmaligkeit, die alle zu Tränen rührte. Für alle Teilnehmer gab es ein Erinnerungs-Urkunde. 20.000 Stück waren gedruckt, sie reichten aber nicht aus und mussten nachgedruckt werden. Die ,Berliner Bank’ gab dann ab dem 8. Januar in ihren Filialen die Urkunde nachträglich aus, Teilnehmer aus der DDR konnten sich diese per Post zuschicken lassen.