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Lange Rennen, Gebirgsläufe & Co.
Grenzsuche: Warum Lauf-Ziele immer extremer werden

| Text: Dr. Stefan Graf | Fotos: iStock/jacoblund, SrdjanPav, Adobe Stock/Prostock-studio

Immer weiter, höher, riskanter – die Suche nach den Grenzen der menschlichen Leistungsfähigkeit zieht immer mehr Sportbegeisterte in den Bann. Reichen „normale“ Herausforderungen nicht mehr aus?

Voller Bewunderung habe ich 1974 als sportvernarrter Teenager den ersten Berlin-Marathon verfolgt. 286, nach damaliger Sicht als austrainierte Extremsportler definierte Athleten, haben daran teilgenommen – acht Frauen und 236 Männer finishten. Und heute?

Läufer aller Couleur machen Marathons zwar zu unverändert beeindruckenden Veranstaltungen. Aber seine Symbolkraft für das Extrem körperlicher Belastbarkeit hat der Marathon verloren. 100-Kilometer-Läufe, Non-Stop-Wüstendurchquerungen, Mehrfach-Ironmans und überlange Trailruns in dünnluftigen Hochgebirgsregionen sind das, was momentan den Hauch des Außergewöhnlichen umgibt.

Ein Ende des „Immer-spektakulärer-Booms“ ist nicht in Sicht. Die Frage steht im Raum: Warum findet eine steigende Zahl von Menschen ihre sportliche Befriedigung nur noch im Extremen und ist sogar bereit, dafür erhebliche gesundheitliche und sogar lebensgefährdende Risiken in Kauf zu nehmen? Wo liegt die Grenze zwischen Erlebnisfreude und Sucht?

Der Bewunderung auf der einen steht verständnisloses Kopfschütteln auf der anderen Seite gegenüber. Mangel an beruflichen wie privaten Erfolgserlebnissen wird da schnell als Ursache diagnostiziert. Andere halten die sportlichen Extrempfade für Insignien einer Wohlstandsgesellschaft, die „normale“ Bedürfnisbefriedigung für selbstverständlich erachtet und hedonistisch nach neuen Herausforderungen sucht, getreu dem Motto „wenn‘s dem Esel zu wohl wird, geht er aufs Eis“.

Suche nach den Ursachen gestaltet sich schwierig

Diskussionen zu dem Thema führen schnell zu ebenso extremen Positionen wie die sportlichen Herausforderungen selbst. Da lohnt der Blick in die Wissenschaft. Seitens der Genetik gibt es Hinweise, dass der „Sensation Seeker“ – so wurde bereits in den 1970er-Jahren von Marvin Zuckerman ein Persönlichkeitstyp mit sehr hoher Schwelle für ein als erfüllend empfundenes Erregungsniveau definiert – zu 60 Prozent durch eine besondere genetische Konstitution zu Grenzerfahrungen neigt. Kommen entsprechende umweltbedingte („epigenetische“) Einflüsse hinzu, welche diese Gene auf „on“ stellen, strebt die Person nach extremen Herausforderungen.

Neben Genetik und Epigenetik beschäftigt sich besonders die Psychologie mit dem Trend zu abnormen sportlichen Herausforderungen. Die Ursachensuche wird dadurch erschwert, dass es keine messbaren Laborparameter für die Neigung zum Extremen gibt, keine Laktat- und VO2max-Werte, wie wir sie zur Bestimmung von Muskelermüdung und Ausdauerleistungsfähigkeit kennen.

Sensation-Seeking wird der besondere Hang zum Extremen genannt, der sich in Risikosportarten oder aber im Ausdauersport durch überlange Ultradistanzen, geografische, klimatische oder andere riskante Bedingungen ausdrückt.

Intrinsische und extrinsische Motivationsfaktoren betimmen unseren Antrieb

Nach der von den Psychologieprofessoren Richard M. Ryan und Edward L. Deci an der Universität Rochester (USA) entwickelten „Basic Needs Theory“ – im Deutschen als „Selbstbestimmungstheorie“ geläufig – wird unser Antrieb, etwas zu tun, durch sogenannte intrinsische und extrinsische Motivationsfaktoren bestimmt. Dabei wird die intrinsische Motivation als natürlicher Drang definiert, Herausforderungen zu suchen, deren Erfüllung drei zentrale Grundbedürfnisse des Menschen befriedigt:

  • Autonomie: selbstbestimmt und unabhängig Ziele setzen und erreichen
  • Kompetenz: das Erleben, schwierige Aufgaben dank eigener Fähigkeiten zu meistern
  • Soziales Eingebundensein: das eigene Erleben im Kontext mit anderen (gerade unter Individualsportlern und -sportlerinnen sehr unterschiedlich ausgeprägt)

Gegenüber dieser intrinsischen wird die extrinsische Motivation vor allem durch die Belohnung von außen, etwa durch Applaus, Wettkampfmedaillen oder Prämien bestimmt.

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Intrinsische Motivation bei sportlichen Extremen dominiert

Gerade im Bereich extremer sportlicher Herausforderungen tritt der externe „Köder“ deutlich in den Hintergrund. Wer transalpin unterwegs ist, tagelang durch die Wüste oder polare Gefilde rennt, wird nicht auf applaudierende Motivatoren am Pistenrand hoffen dürfen und meist keinen großen Bahnhof im Ziel erleben.

Die selbstgewählte Einsamkeit des Langstreckenläufers spricht Bände. Die entscheidende Note für solche exorbitanten Herausforderungen kommt der Basic Needs Theorie zufolge von der intrinsischen Motivation. Deren Ausprägung zeigt aber ganz offensichtlich riesige individuelle Unterschiede, denn trotz steigender Tendenz, ist der Anteil der sportlichen „Extremisten“ nach wie vor überschaubar.

Trotzdem gilt auch für jeden und jede „Dreimal-die-Woche-Jogger bzw. -Joggerin“: Je stärker die drei Bedürfnisse der Autonomie, Kompetenz und sozialen Einbeziehung durch Art und Umfang meiner sportlichen Aktivität befriedigt werden, umso größer ist meine Motivation, sie immer wieder als diesen einzigartigen „Flow“ zu erleben. Je extremer die Belastungen werden, umso stärker wird zudem der Einfluss physiologischer, mitunter ekstatisch empfundener Begleitfaktoren.

Das viel zitierte „Runners High“, also die über das limbische System induzierte Ausschüttung euphorisierender Botenstoffe wie Dopamin, Endorphine und Carabinoide, betäubt Schmerzen und verschleiert Strapazen. Das positive Feedback anderer ist gemäß der Selbstbestimmungstheorie ungleich weniger bedeutsam. Je länger die sportlichen Herausforderungen werden, umso mehr gewinnt die intrinsische Motivation an Relevanz.

Fast jeder sucht hin und wieder neue Reize

Dass Routinen im Sport irgendwann als eintönig empfunden werden, ist nicht ungewöhnlich. Zwar gibt es die „pflichtbewussten“ Gesundheitssportler und -sportlerinnen, die jahrzehntelang an stets den gleichen Wochentagen ihre Standardrunde durch den Stadtpark joggen, jeden Morgen 50 Liegestütz machen, abends ihr Dehnprogramm abspulen und sich damit ausgeglichen und zufrieden fühlen.

Die meisten aber suchen neue Reize. Ob diese im Erschließen neuer Laufreviere, in der Verlängerung der Distanz, in Tempoerhöhung, Wettkampfteilnahmen oder in anderen Sportarten gefunden werden, ist eine Mentalitätsfrage. Doch geht es hier primär nie ums Extreme. Zwischen 45 Minuten Joggen und einem 100-Kilometer-Lauf liegen ebensolche Welten wie zwischen einem profilierten Lauf durch die Weinberge und einem Ultratrail im Himalaya. Die meisten kommen nie auf den Gedanken, solche Dimensionen zur Vollendung ihres Lebensglücks in Angriff zu nehmen. Doch es werden immer mehr.

Parallelen zu Suchtkranken erkennbar

Bleibt die spannende Frage, warum die Mehrheit der Freizeitaktiven die Erfüllung ihrer „Basic needs“ durch Sport in moderaten Ausmaßen findet, aber eine wachsende Minderheit innerhalb immer kürzer werdender Zeitintervalle immer extremere Herausforderungen für ihre Grundbedürfnisbefriedigung sucht. Risiken für die körperliche, aber auch die seelische Gesundheit – was passiert etwa beim Scheitern, wenn gesetzte sportliche Ziele nicht erreicht werden – scheinen dabei weitgehend ausgeblendet zu werden.

Für die Experten und Expertinnen sind hier Parallelen zu stoffgebundenen Süchten unverkennbar. Manche Menschen werden alkoholkrank, andere bleiben zeitlebens mit geringen Dosen glücklich. Natürlich ist längst nicht jede und jeder, die oder der extreme sportliche Leistungen anstrebt, sportsüchtig. Aber Gefahrenbewusstsein und Eigensensibilität müssen gesteigert werden.

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Studie zeigt: Rund 4,5 Prozent der Freizeitsportlerinnen und -sportler trainieren in ungesunden Dimensionen

Für extreme Sportler und Sportlerinnen reichen die Dosiserhöhungen, die normalerweise als Erfolgserlebnisse wirksam sind, nicht aus. Ihre Befriedigungsschwelle ist deutlich erhöht. Ist ein Leistungsniveau erreicht, reizt sehr schnell die nächsthöhere Stufe. Wird diese bewältigt, werden Selbstbestimmung und Kompetenz wieder stark empfunden – „ich habe das geschafft, allein durch meine Fähigkeiten, und ich habe es freiwillig ohne Druck von außen getan“.

Doch es fehlt die Nachhaltigkeit dieses Glücks, und schnell geht der Blick zur nächsten Stufe, auch weil dort eine noch höhere „Glückshormon-Ausschüttung“ wartet. Was Normalsportler und -sportlerinnen längst als Qual empfänden, definieren die „Extremen“ für sich immer noch als „just for fun“. Für Psychologinnen und Psychologen ist das ein sehr wichtiger Faktor im Erklärungsmodell für die zunehmende Neigung moderner Menschen zum Extremsport.

Nach einer Kooperationsstudie von Sportwissenschaftlern und -wissenschafterinnen der Universitäten Erlangen-Nürnberg und Halle Wittenberg mit Medizinerinnen und Medizinern vom Klinikum Forchheim hat der Trainingsumfang von etwa 4,5 Prozent der deutschen Freizeitsportler und -sportlerinnen gesundheitsgefährdende Dimensionen. Andere Studien gehen sogar von deutlich höheren Werten aus.

Die Frage ist, ab welchem sportlichen Pensum vom bedrohlichen Extremen zu sprechen ist. Aufgrund großer Unterschiede in den individuellen Voraussetzungen wird sich hier keine universelle Antwort finden lassen. Es gibt aber untrügliche Zeichen für einen Kontrollverlust, bei dem suchtartiges Verhalten die Oberhand über das Risikobewusstsein gewinnt und Glücksgefühle fehlgedeutet werden.

Zu diesen Suchtzeichen gehören:

  • zwanghaftes Steigern der Trainingsumfänge und/oder -intensitäten
  • ohne Trainingssteigerung keine mentale Bedürfnisbefriedigung
  • vermeintliche Glücksemfindungen sind in Wahrheit unterdrückte Entzugserscheinungen wie Depressivität, Unruhe, Reizbarkeit, Aggressivität, Ängste
  • Unfähigkeit, die eigene sportliche Betätigung willentlich zu limitieren oder gar zu reduzieren
  • Ignorieren körperlicher Warnsignale wie Schmerzen und Erschöpfung
  • wiederholter Schmerzmittelkonsum, um trainieren zu können
  • Training trotz Infekten und Verletzungen
  • Verzicht auf medizinische Kontrollen aus Angst vor Trainingsverbot
  • Sport wird zum absoluten Lebensmittelpunkt unter Vernachlässigung von Familie, Beruf und Sozialkontakten außerhalb der „Extremsportblase“
  • Ausrichtung aller Verhaltensmuster (Ernährung, Schlaf, Partnerschaft/Sex, Sozialleben) auf die sportliche Leistungserbringung
  • Relativierung und/oder Verheimlichung des eigenen Trainingspensums, um Konflikte zu vermeiden

Nur in seltenen Fällen wird das ganze Spektrum sportsuchttypischer Charakteristika erfüllt sein. Es reicht, sich bei der Eigenreflexion nur in einzelnen Punkten wiederzufinden, um sich sein Gefährdungspotenzial bewusst zu machen.

Was ist normal und was ist extrem?

Da eine durchdachte Umfangs- und Intensitätssteigerung Teil jeder leistungsorientierten Sportlichkeit ist, erscheint die Differenzierung zwischen starker Sportbindung (im Sinne besonderer Leidenschaft) und zwanghaftem Streben nach dem Extremen nicht ohne weiteres möglich zu sein.

So kennen alle, die gerne laufen, die unguten Gefühle, die eine Zwangspause mit sich bringt – sei sie nun verletzungsbedingt oder anderen Lebensumständen geschuldet. Man fühlt sich unausgeglichen und das In-Zaum-Halten des Bewegungsdrangs erfordert Disziplin. Aber man ist in der Lage, die Vernunft siegen zu lassen, und die sportlichen Entzugserscheinungen so lange hinten anzustellen, bis die Trainingsbelastung ohne erhöhte Risiken gesteigert werden kann.

Fachkundige Betreuung bei höheren Ambitionen sinnvoll

Zudem bereitet die Limitierung („für mich ist ein Halbmarathon genug“) keine Schwierigkeiten. Bei reiner sportlicher Leidenschaft fehlt jede Zwanghaftigkeit und beim Beenden der leistungsfokussierten Wettkampfkarriere gelingt die „Moderatisierung“ ohne große Probleme.

Gerade im Laufbereich ist der Aktivenanteil hoch, der weder in einem Verein noch in einer mit Expertise „gesegneten“ Laufgemeinschaft aktiv ist. Trainingspläne gibt‘s im Netz und alles andere, was zum Laufen benötigt wird, lässt sich in Eigenregie organisieren. Nur eines lässt sich nicht auf diese Art erwerben – der fachkundige Blick von außen, der nicht durch Endorphine, Ehrgeiz und durch Erfolge korrumpierte Eigenwahrnehmung getrübt ist.

Ohne erfahrenen Trainerinnen oder Trainer, medizinische Betreuung oder, allgemein gesprochen, ohne äußere Supervision, die Leistung und Gesundheit in einem vernünftigen Maß abgleicht, ist die Gefahr groß, mit dem Drang nach immer mehr in eine Sackgasse zu laufen. Wer Höheres anstrebt, ist gut beraten, es nicht ohne wohlwollende fachkundige Betreuung zu tun.