Kniebandagen beim Joggen
Schneller durch orthopädischen Support?
Orthopädische Hilfsmittel wie Kniebandagen beim Joggen boomen. Viele erhoffen sich davon mehr Leistungsfähigkeit oder wollen Verletzungen vorbeugen. Was ist sinnvoll und für wen?
Beim jüngsten Berlin-Marathon war es eindrucksvoll zu beobachten: Bandagierte Knie hier, getapete Knöchel da und die ganz Fortschrittlichen hatten eine Haltungsbandage, die an den Rucksackverband nach einem Schlüsselbeinbruch erinnerte. Kniebandagen beim Joggen und ähnliche Hilfsmittel scheinen allgegenwärtig.
Die alte Witzelei, dass die Zahl der Bandagen das Alter bzw. die Zahl der Trainingsjahre eines Läufers oder einer Läuferin anzeigt, gilt nicht mehr. Beschwerden ziehen sich heute durch alle Alters- und Leistungsstufen.
Denn trotz einiger gesundheitlicher Benefits hinterlassen hohe Trainingsumfänge und Wettkampffrequenzen auch an Sehnen, Bändern und Gelenken relativ junger Aktiver ihre Spuren. Das können auch innovative Laufschuhentwicklungen, neue trainingswissenschaftliche Erkenntnisse und Technikschulung nicht verhindern.
Wieso Hilfsmittel wie Kniebandagen beim Joggen eingesetzt werden
Doch der gesteigerte Einsatz orthopädischer Hilfsmittel hat längst nicht nur medizinische Gründe. Oft bestehen gar keine Beschwerden oder Vorschäden. Dafür aber die Hoffnung auf eine verletzungspräventive Wirkung sowie positive Einflüsse auf Lauftechnik, Belastungstoleranz und Leistungsfähigkeit. Diese Entwicklung hat die „Gesellschaft für Orthopädisch-Traumatologische Sportmedizin (GOTS)“, die größte europäische Vereinigung von Sportorthopäden und -traumatologen aus den DACH-Staaten (Deutschland, Österreich, Schweiz), dazu bewogen, Aufklärungsarbeit zu leisten.
Im Folgenden gehen wir auf verschiedene Hilfsmittel ein und beschreiben ihren Nutzen – und auch was bei ihrer Verwendung zu beachten ist.
1. Bandagen
Eine jener einfachen Bandagen aus mehr oder weniger straff-elastischem Mischgewebe hat sich wohl jede und jeder läuferisch Aktive schon einmal übergezogen. Zum Beispiel über einen „ziehenden“ Muskeln oder das Sprunggelenk zur Fußstabilisierung beim Laufen im Gelände. Auch im akuten Verletzungsfall kann eine straffe Textilbandage oder elastische Binde nützlich sein, wenn sie als komprimierende Sofortmaßnahme nach der Kälteanwendung eingesetzt wird.
Sobald weitere Funktionselemente wie zum Beispiel Silikon-Pelotten zur gezielten Druckumverteilung eingearbeitet sind, wird es deutlich individueller. Besonders, wenn es um erhoffte Effekte geht, die nicht im Kontext mit Vorschäden stehen, sondern präventive und leistungsfördernde Effekte erhofft werden, sind klassische Bandagen auch deshalb so populär, weil sie die natürliche Bewegungsfreiheit wenig einschränken und ein Sicherheitsgefühl vermitteln.
Es muss aber gerade bei hohen Belastungsumfängen und -intensitäten bedacht werden, dass die kleinflächige mechanische Kompression nachteilige Veränderungen in der Sensomotorik (Umsetzung von Nervensignalen in koordinierte Bewegungen), der Thermoregulation sowie beim Abfluss von venösem Blut und Lymphe verursachen kann.
2. Kompaktere Orthesen
Orthesen sind stabiler und fester konstruiert als Bandagen. Sie dienen der stärkeren Stabilisierung, gegebenenfalls sogar der funktionellen Überbrückung eines labilen Gelenks. Durch zusätzliche Bauelemente haben sie eine bewegungsführende und -korrigierende Funktion.
Ohne medizinische Indikation und ärztliche Verordnung sollten sie nicht „auf gut Glück“ erworben und angewendet werden. Richtiges Anlegen und perfekter Sitz sind ausschlaggebend für die Wirksamkeit und um Druck- und Scheuerstellen sowie darüberhinausgehende Schäden zu vermeiden.
3. Kompressionsprodukte
Kompressionsprodukte sind im Laufbereich mittlerweile weit verbreitet. Sie sollen vor allem die Mikrozirkulation, d. h. die Durchblutung jener kleinsten Blutgefäße forcieren, durch deren dünne Wände eine besonders effektive Versorgung mit Sauer- und Nährstoffen sowie Entsorgung von Stoffwechselprodukten erfolgt. Durch ihre Stützfunktion wird zudem eine Verbesserung der biomechanischen Muskel-Gelenk-Interaktion erwartet.
Die aktuelle Studienlage liefert Belege für eine zumindest geringfügige Optimierung der Muskelregeneration sowie für eine präventive Wirkung vor überlastungsbedingten Muskelverletzungen. Eine Leistungssteigerung ließ sich hingegen nicht nachweisen.
4. Kinesiotapes
Kinesiotapes erfreuen sich großer Beliebtheit: In froher Farbenvielfalt auf Waden, Knien, Harmstrings und sonst wo am Körper. Allerdings gibt es eine große Diskrepanz zwischen dem Wirkungsempfinden und dem wissenschaftlichen Nachweis einer wirklichen physiologischen Wirkung.
Die elastischen Baumwollpflaster – in den 1970ern vom japanischen Chiropraktiker Kenzo Kase für Sumoringer entwickeltet – werden therapeutisch und nachsorglich bei Verletzungen oder Verspannungen am gesamten Bewegungsapparat eingesetzt. Oder auch zur Unterstützung der Regeneration. Zudem soll die Anwendung prophylaktisch der Gelenkstabilisierung und muskulären Aktivierung dienen.
Das angenommene Wirkungsprinzip ist umstritten. Die getapeten Hautareale sollen leicht angehoben werden, um über die resultierende Druckentlastung eine Aktivierung von Blut- und Lymphzirkulation zu erreichen, die wie eine sanfte Dauermassage und Lymphdrainage wirkt. Die Art der Anbringung – insbesondere Ausrichtung und Höhe der Zugspannung – ermögliche beschwerdespezifische Anwendungen.
Auf diese Weise sei je nach Symptomatik sowohl ein den Muskeltonus erhöhendes als auch ein erniedrigendes Kinesiotaping möglich. Spezielle, unter maximaler Zugspannung aufgeklebte Tapes, sollen über die Reizung der hauteigenen Mechanorezeptoren eine Deaktivierung der Schmerzrezeptoren auslösen. Dies verhindere unnatürliche Schonhaltungen und ermögliche schmerzfreie natürliche Bewegungsabläufe.
Derart spezifische Wirkungen seien jedoch nur beim fachgerecht ausgeführten Kinesiotapen erreichbar. Last but noch least gehe von den Pflastern eine psychische Stärkung in Form verbesserter Körperwahrnehmung und Motivationssteigerung aus.
Aus weit über 100 Studien ließ sich bis dato keine belastbare Wirksamkeitsevidenz ableiten. Unabhängig davon können Placebo- und Suggestionswirkungen Berge versetzen. Die Seele läuft immer mit. Da die Tapes keinen Schaden anrichten, sollte man überzeugten Nutzerinnen und Nutzern die Anwendung nicht ausreden, solange keine ernsten Schäden vorliegen, die der medizinischen Intervention bedürfen.
5. Schuheinlagen
Hochwertige Laufschuhe sind heute High-Tech-Produkte der Sprengungs-, Stütz- und Führungstechnik. Für nach innen oder außen einknickende „Überpronierer“ und „Übersuppinierer“ gibt es im Fachhandel bereits entsprechend ausgleichende Modelle, die aber nicht auf die individuellen Verhältnisse abgestimmt sein können und daher eine Kompromisslösung darstellen. Das Gleiche gilt für Personen mit Senk-Spreizfüßen.
Die dann oft genutzten Schuheinlagen zum Ausgleich von Fehlstellungen, zur Ballen- oder Fersenentlastung und vermeintlichen Laufstiloptimierung gibt es in großer Vielfalt und Qualität. Die Palette reicht von Diskounterprodukten wie „One-fits-all“-Einlegesohlen im nachgeahmten Fußgewölbedesign bis hin zur ärztlich verordneten, individuell vom Orthopädietechniker nach Ganganalyse und Formabdruck gefertigten Spezialeinlage.
Für all diese Produkte gilt es zu beachten, dass jede kleine Veränderung der Fußstellung die Sensomotorik, das Gangbild und damit den Laufstil verändern kann. Daher sollte bei fehlender medizinischer Indikation nicht leichtfertig mit Schuheinlagen herumexperimentiert werden, in der Hoffnung damit Laufstil und Leistung zu optimieren. Zur Vermeidung und Therapie von Fehlbelastungen können professionell angepasste Einlagen ein Segen sein, aber sie machen keinen „Ackergaul zum Rennpferd“.
6. Haltungsbandagen
Der neueste Schrei sind die an einen Rucksackverband erinnernden „Haltungsbandagen“, mitunter auch als „Haltungstrainer“ im Angebot. Geworben wird mit einer „Trainingswirkung“, die die Körperhaltung optimiert und Rückenschmerz lindern bzw. gar nicht erst entstehen lässt.
Aussagekräftige Forschungsarbeiten zur Wirksamkeit fehlen bislang. Wer läuft und haltungsbedingten Rückenproblemen vorbeugen oder sie therapieren will, sei immer wieder daran erinnert, dass regelmäßiges Stabilisierungs- und Muskelkräftigungstraining (mindestens 2x/Woche) unabdingbarer Baustein körperlicher Fitness ist. So gesund das Laufen ist, die muskelbildende Komponente unter besonderer Berücksichtigung einer ausgewogenen Entwicklung gegeneinander arbeitender Muskel(gruppe)n bedarf gezielter Kräftigungsreize, die das Laufen allein nicht liefert.
Und jetzt? Wie sinnvoll sind orthopädische Hilfsmittel?
Das Grundprinzip zum Einsatz orthopädischer Hilfsmittel im Sport hat PD Dr. Thilo Hotfiel, GOTS-Vorstandsmitglied und Orthopäde am Zentrum für Muskuloskelettale Chirurgie des Klinikums Osnabrück formuliert: „So wenig wie möglich, so viel wie nötig!“ Grundsätzlich sollte der Einsatz von Bandagen, Orthesen oder Einlagen stets zielgerichtet erfolgen und objektiv begründet sein, sagt der als Verbandsarzt der Deutschen Triathlon Union engagierte Experte.
Das setzt Fachkenntnisse hinsichtlich anatomisch-medizinischer, bewegungsphysiologischer und biomechanischer Zusammenhänge voraus und gilt unabhängig davon, ob der Einsatz von Bandage oder Schuheinlage an die Erwartung geknüpft wird, das Leistungsniveau zu halten bzw. zu verbessern, Beschwerden zu lindern oder Verletzungsprophylaxe zu betreiben. Nach dem „Kann-ja-nicht-schaden-Prinzip“ herumzuexperimentieren, ergibt wenig Sinn und birgt Risiken.
„So wenig wie möglich, so viel wie nötig!“
(PD Dr. Thilo Hotfiel zum Einsatz orthopädischer Hilfsmittel im Sport)
Dünne Evidenz
Die empirische Evidenz – durch seriöse Forschungsdaten untermauerte Belege – für eine pauschale therapeutische/präventive oder gar leistungssteigernde Wirksamkeit ist weitaus „wackliger“ als der massenhafte Einsatz orthopädischer Hilfsmittel vermuten lässt. Der individuellen Anatomie eines jeden Menschen kommt eine übergeordnete Bedeutung zu.
Ohne jegliche Beschwerden, allein vom „Schneller-Weiter-Höher-Wunsch“ getrieben, sollte man von orthopädischen Manipulationen absehen, zumal es in dieser Richtung keine belastbaren Daten für Positiveffekte gibt.
Im Falle von bestehenden Beschwerden oder Vorbelastungen ist man mit der Konsultation des Facharztes oder einer Fachärztin am besten beraten. Diese wissen um die sportarttypischen Belastungen, können überstandene Verletzung oder bestehende Fehlstellungen einordnen, kennen sich mit Konstruktionsprinzipien und Wirkungsweisen verschiedener Hilfsmittel und deren (Kontra-)Indiktionen aus.
Eine schlechtsitzende Bandage mit ungeeigneten Stabilisierungselementen oder eine nicht individuell angepasste Schuheinlage kann ebenso Schaden anrichten wie ein laienhaft angelegter Tapeverband, der den Blutfluss abschnürt. Für die individuelle Anatomie gibt es keine pauschalen orthopädischen Lösungen. Die Erwartung, durch den nicht-therapeutischen Einsatz von Bandagen, Tapes und Kompressoren einen Leistungskick zu generieren, wird von der wissenschaftlichen Evidenz nicht gestützt. Weniger ist mehr!