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Nachwuchsläuferin des Jahres
Jolanda Kallabis: Ein Ausnahmetalent nimmt die Überholspur

| von Martin Neumann

Jolanda Kallabis ist 2022 die „Nachwuchsläuferin des Jahres“. Hier stellen wir die Läuferin vor, die über 2000 Meter Hindernis schneller ist als alle anderen unter 18-Jährigen weltweit und jemals.

Am 6. Juli gleicht die letzte Runde des U18-EM-Finals über 2000 Meter Hindernis einem Hürdensprint: Jolanda Kallabis zieht das Tempo extrem an und stürmt wie eine 400-Meter-Hürdenläuferin über die finalen fünf Hindernisse. Eine Galavorstellung der 17-Jährigen in Jerusalem. Denn folgen können die Konkurrentinnen der Freiburgerin nicht. Mit 6:20,22 Minuten hat Jolanda Kallabis im Ziel einen riesen Vorsprung von acht Sekunden auf die Schleswig-Holsteinerin Adia Budde. Diese letzte Runde auf internationaler Bühne zeigt erstmals eindrucksvoll, wie enorm das läuferische Potenzial der Schülerin ist. Es soll nicht bei diesem einem Mal bleiben.

„Ich wusste nach der EM, dass noch mehr möglich ist“, blickt Jolanda Kallabis mit einigen Monaten Abstand auf ihren Gold-Lauf zurück. Zwar hatte sie mit ihrer Zeit schon die deutschen Jugendrekorde der U18- und U20-Klasse klar verbessert. Doch damit wollte sie sich nicht zufriedengeben, sondern ihr volles Können zeigen. Dabei ließ sie sich auch nicht von einer Corona-Infektion im Sommer stoppen. Nach der Genesung stieg sie behutsam mit ihrer Mutter und Trainerin Nina Rosenplänter – selbst früher Mittelstreckenläuferin – wieder in die Vorbereitung ein, um sechs Wochen später den ganz großen Coup zu landen.

Am 9. September in Trier ließ Jolanda Kallabis selbst ausgewiesene Laufexperten staunend zurück. Die 17-Jährige distanzierte über 2000 Meter Hindernis unter anderem die EM-Vierte von München, die Polin Alicja Konieczek. Dabei lief sie mit 6:07,72 Minuten schneller als jede andere U18-Athletin vor ihr. Die 13 Jahre alte U18-Weltbestleistung der Äthiopierin Korahubish Itaa steigerte Jolanda Kallabis bei ihrem beeindruckenden Rennen um knapp vier Sekunden. Ein Rennen auf der Überholspur. „Mit dieser Zeit und dem Rekord habe ich wirklich nicht gerechnet. Zumal ich beim letzten Wassergraben bis zur Hüfte im Wasser gelandet bin, weil die Kraft zu Ende ging. Aber ich konnte noch durchziehen“, sagt Jolanda Kallabis und lacht dabei.

Dabei ist für die Läuferin vom FT 1844 Freiburg das Rekordrennen von Trier der letzte Einsatz für unbestimmte Zeit über die Hindernisstrecke gewesen. Das ist umso erstaunlicher, da Damian Kallabis ihr Vater ist. Das beste Jahr einer erfolgreichen Karriere gelang dem heute 49-Jährigen 1998, als er in Budapest zum EM-Titel lief und wenige Wochen später den Weltcup in Johannesburg für sich entschied. Sein deutscher Rekord über 3000 Meter Hindernis von 8:09,48 Minuten, erzielt ein Jahr später im Leichtathletik-Mekka Zürich, hat noch heute Bestand.

Die Streckenlänge ist der Grund für den „Hindernis-Verzicht“. Denn in der U20-Klasse, zu der Jolanda Kallabis 2023 und 2024 zählt, stehen international eben nicht mehr die 2000 Meter Hindernis auf dem Programm, sondern die 50 Prozent längeren 3000 Meter Hindernis. National bleibt es zwar bei den 2000 Metern Hindernis. Doch in Deutschland stürmt die 1,76 Meter große Läuferin ohnehin unangefochten voran. So steigerte sie 2022 den deutschen U20-Rekord der späteren Olympiastarterin Maya Rehberg gleich um mehr als 14 Sekunden oder umgerechnet 75 Meter!

„Die 3000 Meter Hindernis benötigen einen deutlich höheren Trainingsumfang. So weit bin ich noch nicht“, sagt Jolanda Kallabis offen. In der vergangenen Saison kam die Schülerin auf maximal 35 Wochenkilometer. Viele Läuferinnen ihres Alters spulen schon deutlich mehr Kilometer ab. Anstatt große Umfänge zu absolvieren, setzt Trainerin Nina Rosenplänter auf die Verbesserung der Grundschnelligkeit sowie Koordinations- und Technikeinheiten mit Hürdenüberquerung. Ein behutsamer und gut durchdachter Aufbau für die nächsten Karriereschritte.

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In Trier als Nachwuchsläuferin des Jahres ausgezeichnet

Denn Jolanda Kallabis ist 2022 nicht nur beste deutsche Nachwuchsläuferin über 2000 Meter Hindernis. Sie führt auch die deutsche U18-Bestenliste über 1500 (4:14,08 min) und 800 Meter (2:04,57 min) sowie über 400 Meter Hürden (59,71 sec) mit jeweils deutlichem Vorsprung an. Ein Beweis für ihr läuferisches Ausnahmetalent. Es erinnert ein wenig an die junge Konstanze Klosterhalfen. Die 5000-Meter-Europameisterin von München war als Jugendliche ebenfalls auf vielen Strecken zu Hause. Und ist es noch heute. Kein Wunder, dass beide am Ende des Jahres 2022 von laufen.de, dem Deutschen Leichtathletik-Verband und von German Road Races mit großem Vorsprung zu Deutschlands „Läuferinnen des Jahres“ gekürt wurden: Europameisterin Klosterhalfen bei den Erwachsenen und Jolanda Kallabis beim Nachwuchs. Geehrt wurden beide bei einer großen Laufgala in Trier.

Das Hauptaugenmerk von Jolanda Kallabis, die in ihrer Freizeit gern Rennrad fährt und E-Gitarre spielt, gilt im kommenden Jahr den Mittelstrecken. „Da möchte ich mich weiter verbessern. Schon vergangene Saison wären schnellere Zeiten möglich gewesen“, sagt Jolanda Kallabis. So spricht eine junge, selbstbewusste Frau, die um ihre Stärken weiß. Schon in diesem Jahr scheute sich die angehende Abiturientin nicht, gegen deutlich ältere Läuferinnen anzutreten. So wie bei ihrem Rekordrennen in Trier.

Jolanda Kallabis nimmt die Herausforderungen an. Läuft mutig vornweg. Sucht das sportliche Limit. Nicht ausgeschlossen, dass sie schon 2024 die Qualifikation für die Olympischen Spiele in Paris schafft. Auf welcher Strecke? Das kann heute noch niemand vorhersagen. Denn auch eine Rückkehr auf die Hindernisdistanz ist natürlich nicht ausgeschlossen. Auch wenn bei Jolanda Kallabis ein EM-Finale im Hindernislauf gern einem Hürdensprint gleicht.