Kathrine Switzer - Die erste Frau beim Marathon

| Text: Anja Herlitz | Fotos: dpa, 261 fearless, adidas
Frauen beim Marathon- Vor 50 Jahren undenkbar. 1967 wagte Katherine Switzer es trotzdem und startete damit eine Revolution.

Kaum vorstellbar, aber wahr: Vor 50 Jahren war es Frauen verboten, Marathon zu laufen. Beim Boston-Marathon 1967 war Kathrine Switzer die Erste, die mit einer Startnummer auf die 42,195 Kilometer ging. Der Renndirektor
wollte sie mit Gewalt von der Strecke drängen. Das Bild davon ging um die Welt – und half Kathrine Switzer dabei, für die Rechte von Frauen zu kämpfen. Wir haben die heute 70-Jährige zum Interview getroffen.

„Weißt du eigentlich, dass ich in Deutschland geboren wurde?“, fragt mich Kathrine Switzer gleich zu Beginn unseres Gesprächs – und nimmt mir damit die Nervosität. Denn ich war wirklich ein bisschen aufgeregt vor unserem Gespräch. Man spricht schließlich nicht jeden Tag mit einer der größten Persönlichkeiten des Frauensports. Aber schnell ist meine Aufregung dank ihrer unkomplizierten Art verflogen und ich merke, weshalb Kath-rine Switzer in ihrem Leben so viel erreicht hat – vor allem für Frauen: Weil sie eine unglaublich aufgeschlossene und freundliche Person ist, die auf andere zugeht. Weil sie zudem auch intelligent ist, genau weiß, was sie will und dafür nachdrücklich eintritt – ohne dabei aber engstirnig zu werden. All das hat sie wahrscheinlich zu einer der größten Vorreiterinnen im Kampf um die Rechte von Frauen gemacht.


Dabei begann alles mit einer ganz alltäglichen Situation – nach unserem heutigen Verständnis. Kathrine Switzer, die nach ihrer Geburt im deutschen Amberg im Alter von zwei Jahren mit ihren US-amerikanischen Eltern zurück in die USA ging, meldete sich 1967 als 20-Jährige für den Boston-Marathon an. Was heute jedes Jahr unzählige Frauen tun, war damals undenkbar. Frauen durften im Wettkampf nicht weiter als eineinhalb Meilen laufen, rund 2,4 Kilometer. Man dachte, Frauen seien dafür zu zart, es würde sie unfruchtbar machen, die Gebärmutter könnte sich lösen, sie würden vermännlichen. Switzer, damals Journalismus-Studentin in Syracuse im US-Bundesstaat New York, aber lief trotzdem – im Training.

Ihr Trainer Arnie Briggs erzählt ihr während des Trainings immer wieder von seinen Starts beim Boston-Marathon. Irgendwann meint sie: „Arnie, lass uns nicht weiter davon reden. Lass uns das Ding einfach laufen.“ Er aber meint, Frauen seien dafür zu schwach. Er hielt es selbst für eine Lüge, dass die US-Amerikanerin Roberta Gibb im Vorjahr in Boston mitgelaufen war. Zwar nicht offiziell, aber sie hatte sich nahe des Starts im Gebüsch versteckt und war dann mit dem Läuferfeld mitgelaufen – nach 3:21 Stunden kam sie ins Ziel. „Aber mein Trainer glaubte nicht daran, dass Frauen Marathon laufen können. Ich musste es ihm im Training beweisen.“ Also liefen Briggs und Switzer 42 Kilometer und – „weil es sich so einfach anfühlte“ – hängten noch einmal acht dran. Während Briggs danach zusammenbrach, ging es Switzer bestens. Ihr Trainer war überzeugt und meldete sie für Boston an. Unter dem Namen K. V. Switzer, was für Kathrine Virgina steht, aber nicht verriet, dass sie eine Frau war. Das Geschlecht wurde bei der Anmeldung damals noch nicht abgefragt – Frauen durften ja sowieso nicht teilnehmen.

"Ich hatte das Gefühl, einen heiligen Ort geschändet zu haben"

Kathrine, warst du nicht nervös, als du am 19. April 1967 in Boston an der Startlinie standst?
Doch natürlich. Aber die Männer um mich herum waren wunderbar und haben mir viel Aufmunterung und Motivation gegeben. Aber ich hatte natürlich Bedenken, in Schwierigkeiten zu kommen, weil ich als Frau eigentlich nicht mitlaufen durfte.

Und so kam es auch. Weil es eisig kalt war und Switzer deshalb mit einem dicken Jogginganzug lief, merkte zwar niemand vor dem Start, dass sie eine Frau war. Aber nach rund sechs Kilometern überholte ein Bus mit Fotografen die Gruppe um Switzer. In diesem Moment stürmte Renndirektor Jock Semple auf die Strecke. Er war erbost, dass eine Frau sich in das Rennen geschlichen hatte, versuchte Switzers Startnummer abzureißen und sie von der Strecke zu drängen. Er wollte, dass sie das Rennen beendete. Aber ihr Freund Tom Miller, ein ehemaliger American Football-Spieler und aktiver Hammerwerfer, über 100 Kilo schwer, der sie zusammen mit ihrem Coach und einem weiteren Freund begleitete, beförderte Semple mit einem Bodycheck zur Seite. Die Fotografen hielten die Situation fest – das Bild (siehe Seite 22) ging später um die Welt.

Wie hast du den Angriff von Jock Semple erlebt
Kathrine?

Ich war daran gewöhnt, dass Leute vom Streckenrand negative Dinge riefen. Aber diese Art der Gewalt hat mich überrascht. Es hat mich zu Tode erschreckt. Ich war verängstigt und habe mich geschämt. Ich hatte das Gefühl, einen heiligen Ort geschändet zu haben.

Hast du überlegt, das Rennen zu beenden?
Eine Sekunde habe ich überlegt auszusteigen. Aber dann wurde ich sehr entschlossen. Ich dachte, wenn ich aussteige, glaubt mir niemand, dass ich es ernst meine und dass Frauen einen Marathon rennen können. Also sagte ich meinem Trainer, dass ich das Rennen beende. Egal wie. Zur Not auf Händen und Füßen.

Du hast es laufend ins Ziel geschafft – nach 4:20 Stunden. Wie waren die Reaktionen?
Gemischt. Die Journalisten im Ziel waren irritiert und meinten, das wäre eine Eintagsfliege gewesen. Und ich dachte: Nur einmal einen Marathon laufen? Auf keinen Fall! Ich habe viele negative Briefe bekommen, aber auch ganz wundervolle. Die negativen habe ich einfach weggeschmissen. Besonders schlimm war das Feedback aber vom Leichtathletik-Amateur-Verband und von der Boston Athletics Association, die den Boston-Marathon veranstaltet. Sie haben mich von diesem und allen weiteren Rennen ausgeschlossen. Und weißt du wieso? Weil ich mit Männern gelaufen war, weil ich bei der Anmeldung nur meine Initialen angegeben und damit betrügerisch gehandelt hatte und weil ich ohne Aufsichtsperson gelaufen bin. Unglaubliche Regel, oder?

Aber du hast dich davon nicht unterkriegen lassen.
Manchmal sage ich: Die schlimmsten Dinge in deinem Leben werden zu den besten. Ich wusste seit diesem Tag in Boston, dass mein Leben sich geändert hatte und ich das System ändern wollte. Ich wollte Möglichkeiten für Frauen schaffen. Obwohl es also ein negativer Vorfall war, hat er mir Inspiration gegeben, um Dinge zum Besseren zu ändern.

Und das tat Kathrine Switzer von da an. Sie kämpfte dafür, dass Frauen im Laufsport die gleichen Rechte haben wie Männer. Fünf Jahre später durften Frauen zum ersten Mal offiziell beim Boston-Marathon starten. Kathrine Switzer wurde in 3:29:51 Stunden Dritte.

Wie war das für dich, endlich „offiziell“ zu sein?
Es war fantastisch, endlich als Läuferin gezählt zu werden und nicht nur als Frau. Endlich trugen wir Startnummern und waren Athleten.

Du hast in den fünf Jahren nach deinem ersten illegalen Start 1967 hart für deine und die Rechte anderer Frauen gekämpft. Hast du niemals daran gedacht, aufzugeben?
Nein. Ich wurde nur stärker und stärker. Denn immer mehr Frauen wollten laufen, und wir wussten, dass wir recht hatten. Ich wollte, dass noch viel mehr Frauen das Gefühl erleben, sich durchs Laufen positiv zu verändern. Dass sie dadurch selbstbewusster werden. Laufen macht einen zu einem besseren Menschen.

Aber dein Kampf war nicht beendet, als Frauen in Boston endlich laufen durften …
Danach habe ich mich dafür eingesetzt, dass Frauen auch bei den Olympischen Spielen Marathon laufen dürfen. Denn ein Marathon bei Olympischen Spielen hat noch einmal eine ganz andere Bedeutung und gibt großartigen Athleten die Möglichkeit zu glänzen. Und 1984 war es dann so weit.

Über die Jahre haben sich deine Ziele etwas verändert. Es geht dir mittlerweile immer mehr darum, Frauen dazu zu ermutigen, mit dem Laufen zu beginnen. Jenseits des Leistungssports. Wieso?
Die meisten Frauen laufen doch nicht, weil sie Leistungssport betreiben. Und sie tun es auch nicht nur, weil sie abnehmen wollen oder ein Hobby suchen. Sie laufen, weil es sie und ihr Leben fundamental ändert. Es vermittelt dir Selbstbewusstsein und steigert dein Selbstwertgefühl. Und das wollte ich so vielen Frauen wie möglich ermöglichen. Ich habe deswegen zwischen 1978 und 2005 zusammen mit der US-amerikanischen Kosmetikfirma Avon 400 Frauenläufe in 27 Ländern organisiert, an denen mehr als eine Millionen Frauen teilnahmen. Wir sind in Länder gegangen, wo es bis zu diesem Zeitpunkt keinen Frauensport gab, zum Beispiel auf den Philippinen, in Malaysia oder Thailand. Die Leute dort sagten, die Frauen würden nicht laufen. Aber sie kamen zu Tausenden. Und nicht, weil sie bei Olympia starten wollten, sondern weil sie daran so viel Spaß hatten.

Dein neuestes Projekt ist „261 fearless“ – angelehnt an deine Startnummer 261, die du 1967 beim Boston-Marathon getragen hast. Was willst du mit dieser Community erreichen?
„261 fearless“ geht noch einen Schritt weiter als die Frauenläufe. Wir gehen mit Club-Programmen in die Communitys der Frauen, wo diese sich zum Laufen treffen. Wir wollen es Frauen ermöglichen, sich selbst und andere durch Laufen in ihrem eigenen Umfeld zu ändern.
Das Programm soll ihnen zeigen, wie viel Spaß Laufen macht. Sie sollen zusammenkommen und eine Freiheit erfahren, die sie so noch nicht kannten. Wenn wir es schaffen, ein Netzwerk auf der ganzen Welt zu erschaffen, können wir dadurch Leben verändern, wie es zuvor nicht möglich war.

In den USA nehmen heute mehr Frauen an Marathons teil als Männer

Du warst selbst eine erfolgreiche Läuferin, hast 1974 den New York-Marathon gewonnen und eine Bestzeit von 2:51:37 Stunden. Auf was bist du mehr stolzer: Auf das, was du als Läuferin erreicht hast oder auf das, was du für Läuferinnen erreicht hast?
Definitiv auf das, was ich für andere erreicht habe. Aber für mich war auch wichtig, was ich als Läuferin erreicht habe. Ich war nicht talentiert. Aber ich wollte zeigen, dass jemand wie ich, wenn er nur hart arbeitet, unglaublich Dinge erreichen kann. Wenn ich das geschafft habe, kann es auch jeder andere. Aber viel wichtiger war für mich, Frauen zum Laufen zu bringen. Denn Laufen ist einfach, für jeden zugänglich und funktioniert überall. Und ich wusste, dass wenn ich Frauen erreiche, ich ihnen helfen kann, ein positiveres und produktiveres Leben zu führen und glücklich mit sich selbst zu sein.

Dieses Jahr bist du wieder den Boston-Marathon gelaufen. Zum neunten Mal. Mit 70 Jahren. In 4:44:31 Stunden. Wie würdest du das bewerten, was sich in den zurückliegenden Jahren seit deinem ersten Start in Boston getan hat?
Es war eine soziale Revolution. Und es hat das Leben von Millionen Frauen verändert, über den Sport hinaus bis in die Gesellschaft. In den USA nehmen heute mehr Frauen an Marathons teil als Männer!

Und all das startete vor 50 Jahren mit dem Foto, auf dem Jock Semple versuchte, dich von der Laufstrecke zu schubsen. Stimmt es, dass ihr später gute Freunde wurdet?
Ja, ich habe ihm vergeben. Er war überarbeitet und ein Produkt seiner Zeit. Wir haben später Reden zusammen gehalten. Ich habe ihn auch ein paar Stunden vor seinem Tod besucht. Viele Leute sagen, das sei unglaublich. Aber ich antworte immer: Wie könnte ich einen Mann nicht lieben, der mein Leben so positiv verändert hat? Er hat der Frauenrechtsbewegung eines ihrer größten Bilder gegeben. Und er hat mir geholfen eine Bewegung zu schaffen, die das Leben von Millionen von Frauen verändert hat.

Katherine Switzer, Adidas

"261 fearless"

 Stärker durch Laufen: Mit der Community „261 fearless“ setzt Kathrine Switzer ihren Kampf für die Rechte von Frauen fort, den sie seit ihrem ersten Start in Boston vor 50 Jahren führt. 261 war Switzers Startnummer beim Boston-Marathon 1967. Jetzt steht 261 für Furchtlosigkeit – nicht nur im Laufsport. „261 fearless“ ist eine globale Bewegung, die Frauen durch Lauf- und Walkingevents zusammenbringt und ihnen so hilft, stärker zu werden und Herausforderungen anzunehmen – sei es im Sport oder im Alltag. Der Sportartikelhersteller Adidas unterstützt „261 fearless“ mit Wissen und Laufausrüstung. Auch in Deutschland gibt es bereits zwei 261 fearless-Clubs: in Berlin und Dresden

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