Mein erster Ultra: Mut steht am Anfang, Glück am Ende

Mein erster Ultra: Mut steht am Anfang, Glück am Ende

| Sandra Mastropietro
Für ihren ersten Ultralauf hat sich Sandra Mastropietro einen ganz besonderen Ort ausgesucht: 50 Kilometer am Toten Meer. Eine tolle Reportage!
Sandra Mastropietro
Am nächsten Morgen entdecke ich die Stadt; tummele mich auf Märkten, trinke frische Säfte und esse Unmengen an Falafel, Humus und Fladenbrot. Wettkampfvorbereitung! Am Abend hole ich meine Startunterlagen. Ungläubig starre ich auf die Zahl unten rechts im Eck der Startnummer. 50. Fünfzig Kilometer – oje, da bekomme ich gleich schon wieder Hunger. Auf zur Pasta-Party! Spaghetti mit Kardamom und Kreuzkümmel – wider Erwarten lecker. Dann zeitig ins Bett. Der Wecker steht auf 4:00 Uhr, der Startschuss wird um 6 Uhr fallen.

Freitag, 3.April 2015: Der große Tag. 160 Leute finden sich um 5 Uhr an einer Tankstelle des „8th Circle“ ein. Hier ist der Startpunkt für den Ultra-Marathon. Laute Musik, eine lange Menschenschlange vor den Dixi-Klos und nervöse Läufer, die sich zum wiederholten Male ihre Schuhe binden, Tausend kleine Schlucke aus der Wasserflasche nuckeln und sich halbherzig aufwärmen. Eine Szene, wie sie überall auf der Welt spielen könnte, wären da nicht die Rufe des Muezzins zwischen den Bässen der modernen Musik und wären da nicht die Menschen, die ihre Stirn auf den Boden Richtung Mekka betten und wenige Minuten vor dem Startschuss beten. Beten für einen guten Lauf, für annehmbare Temperaturen und für Frieden.

Der Startschuss fällt. Unter lautem Jubeln laufen wir den Hügeln von Amman entgegen. Der Stadt, die einst auf sieben Bergen erbaut wurde. Die ersten 10 Kilometer führen uns an offiziellen Gebäuden und Villen vorbei. Dann verlassen wir die Hauptstadt und Suburbs, beobachten wie weiße Sandsteingebäude grüner Vegetation, dann Dornensträuchern und schließlich einem großen Trockengebiet weichen. Die Straße führt bergab. Eine salzige Brise lässt uns unser Ziel erahnen.

Ich laufe, fliege förmlich bergab. Genieße jeden Schritt, sauge die imposante Landschaft förmlich auf. Am liebsten würde ich die Arme ausbreiten und Schlangenlinien laufen – dabei vor Freude schreien – so frei fühle ich mich. Durch meine Kopfhörer singt Freddy Mercury „Don’t Stop Me Now“ und eine kleine Träne des Glücks tritt aus meinen Augenwinkeln.

Plötzlich ganz allein

Ich passiere die Halbmarathonmarke, 30 Kilometer, 35 Kilometer – alles mit einem breiten Lächeln und voller Faszination. Dann wird das Gelände wieder profilierter, die Temperaturen steigen auf über 30 Grad. Ich sehe mich um. Niemand mehr vor mir, niemand hinter mir. Bin ich die Letzte, habe ich mich etwa verlaufen? Nein, kann nicht sein. Weiter, immer weiter. Ich muss weiter laufen. Kilometer 37, 38, 39. Hier wird es langsam wieder etwas belebter. Der Start der 10 Kilometer befindet sich in Sichtweite. Erleichtert atme ich auf – doch nicht verlaufen.

Ich spüre das trockene Salz auf meiner Haut, spüre wie meine Kräfte schwinden und die Sonne vom Freund zum Feind wird. Erbarmungslos steht sie hoch am Himmel und beobachtet jeden Schritt. Nach 3:54 Stunden überquere ich den Marathonpunkt. Jetzt noch acht Kilometer. „Komm schon“ sage ich mir und kippe eine Flasche Wasser über meinen Kopf, genieße die Erfrischung, auch wenn der kühlende Effekt nur wenige Minuten anhält.

Unter fünf Stunden

Vor mir taucht ein langgezogener Hügel auf, auf seinem Gipfel flimmert die Luft. Rechts neben mir thront das Tote Meer. Ich habe Gänsehaut. Mit langen, schweren Schritten kämpfe ich mich hinauf; vorbei an Kamelen und Araberstuten, die ihre eleganten, weißen Körper im Schatten suhlen.

Kilometer 44. Wieder eine Wasserstation. Diesmal leere ich gleich zwei Flaschen. Die Luft hier unten am tiefsten Punkt der Erde ist spürbar „dicker“. Kilometer 46. Ich muss weiter laufen! Mein mp3 Player spuckt „The Final Countdown“ aus. Unwillkürlich muss ich lachen und trabe weiter. Noch vier Kilometer trennen mich von meinem ersten Ultramarathon Finish! Kilometer 48. Meine Kehle ist trocken, meine Zunge geschwollen. Das Salz brennt in meinen Augen. Noch zwei Kilometer. Eine Frau verteilt Red Bull. Sinnbildlich verleihe ich mir selbst Flügel. Kilometer 49. Die Uhr zeigt 4:37 an … den ersten Ultra-Marathon unter fünf Stunden lasse ich mir nicht mehr nehmen, mobilisiere alle Kräfte. Kämpfe gegen die absolute Erschöpfung an, sehe das Ziel vor mir. Ich laufe, weine, finishe!

Cool down im Toten Meer

Eine Frau hängt mir eine Medaille um den Hals, ein Mann schüttelt mir die Hand. „Congrats – you are placed 1st in Age-Category …4th Women, 21st overall“. Ich kann nicht glauben, was er gesagt hat, alles dreht sich. Ich brauche Wasser. Jemand reicht mir eine Cola. Ich leere sie in einem Zug und lasse mich in den Schatten einer Hecke sinken. Die Treppenstufen zum Toten Meer hinunter scheinen nicht machbar.

Wenig später finden mich meine jordanischen Laufbekanntschaften von der Marathon-Messe am Vortag. Gemeinsam humpeln wir die Treppenstufen herunter, resümieren, lachen, posen für Fotos, feiern uns. Sobald ich auf dem Toten Meer treibe, den Blick Richtung Israel gerichtet, wo ich vor ziemlich genau zwei Jahren meinen ersten Marathon gelaufen bin, sind alle Schmerzen gleichgültig, denn eines hat mich der Laufsport gelehrt: Der Schmerz geht, doch der Stolz bleibt.

Wir verbringen den ganzen Nachmittag am Toten Meer. Ich genieße jeden Augenblick, lausche anderen Laufgeschichten und lasse mir von jordanischen Bräuchen und Gegebenheiten berichten. Am Abend packe ich schweren Herzens meinen Rucksack, denn schon am drauffolgenden Tag geht es zurück nach Deutschland.

Nach getaner Arbeit möchte ich mich noch ein letztes Mal mit Falafel und Humus belohnen, bestelle sämtliche Sorten auf der Karte und esse, als sei es meine letzte Mahlzeit. Als ich um die Rechnung bitte, kommt der Restaurantchef auf mich zu und erklärt, der Koran schreibe vor, täglich eine hungrige Person zu beköstigen. Ich sei offensichtlich sehr hungrig gewesen und müsse nichts bezahlen. Ich bedanke mich herzlich und denke für mich: „Magic of the East – es gibt dich also wirklich.“

Inzwischen bin ich wieder in München, im aufgeräumten und kalten Deutschland. Jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit denke ich an die Herzlichkeit, an die lachenden Gesichter, an das entspannte Tee Trinken in Amman. Erinnere mich an die intensivsten Kilometer meines Lebens, denke an das überwältigende Gefühl der Freiheit, denke an den Schmerz ab Kilometer 44 und an den unglaublichen Stolz, diesem getrotzt zu haben. Und so beginne auch ich jeden Tag mit einem Lächeln.

Vielen Dank an alle Unterstützer der Spendenaktion. Nach aktuellem Stand haben wir knapp 1000 Euro für das SOS Kinderdorf in Jordanien gesammelt. Gemeinsam sind wir stark!