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Vorschau: Halbmarathon-WM
Melat Kejeta gibt ihr Debüt im deutschen Nationalteam

| von Jörg Wenig

Die Halbmarathon-WM im polnischen Gdynia ist die einzige Leichtathletik-Weltmeisterschaft im Pandemie-Jahr 2020. Am Start: Weltrekordler Joshua Cheptegei und die deutsche Laufhoffnung Melat Kejeta.

Kann Joshua Cheptegei einen weiteren Schritt machen auf dem Weg in die Gruppe der größten Langstreckenläufer aller Zeiten? Bei den Halbmarathon-Weltmeisterschaften im polnischen Gdynia startet der Ausnahmeläufer aus Uganda am Sonnabend erstmals über die Distanz von genau 21,0975 km und zählt dabei auf Anhieb zu den ganz großen Favoriten. Bei den einzigen globalen Titelkämpfen, die der Leichtathletik-Weltverband World Athletics in diesem Corona-Pandemiejahr veranstalten kann, geht ein komplettes deutsches Team mit fünf Athleten an den Start. Angeführt wird dieses von Amanal Petros (TV Wattenscheid), der sich im Februar in Barcelona auf 62:18 Minuten gesteigert hatte.

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Hat sich dieses Jahr schon die Weltrekorde über 5.000 und 10.000 Meter geholt und will jetzt den WM-Titel: Joshua Cheptegei

Ein spannendes und aller Voraussicht nach auch sehr schnelles Rennen um den WM-Titel kündigt sich an. Denn eines dürfte feststehen: Ist Joshua Cheptegei in der Schlussphase des Halbmarathons noch ganz vorne dabei, dürfte er angesichts seiner enormen Grundschnelligkeit nur sehr schwer zu schlagen sein. Insofern werden besonders die Kenianer wohl versuchen, von Beginn an ein hohes Tempo einzuschlagen, um Cheptegei herauszufordern und ihn dann möglichst abzuhängen.

Joshua Cheptegei hat ausgerechnet in einem Pandemie-Jahr sowohl den 5.000-m- als auch den 10.000-m-Weltrekord gebrochen. Der 24-Jährige lief 12:35,36 beziehungsweise 26:11,00 Minuten. Im vergangenen Jahr gewann er den Cross-WM-Titel als auch das 10.000-m-WM-Gold. Cheptegei kann also beides: Rekorde laufen und Meisterschaftsrennen gewinnen.

Seine größten Herausforderer sind der erst 19-jährige Jacob Kiplimo (ebenfalls Uganda) und die Kenianer Kibiwott Kandie, Benard Kimeli und Benard Ngeno sowie der aus Kenia stammende und für Bahrain laufende Abraham Cheroben. Aber auch ein Europäer könnte weit nach vorn laufen: Julien Wanders hat schon mehrfach auf der Straße überrascht. Der 24-jährige Schweizer hält mit 59:13 Minuten den Halbmarathon-Europarekord.

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Wie weit nach vorn kann Amanal Petros laufen?

Einen deutlichen Aufwärtstrend verglichen zu seiner Form zuvor zeigte vor einem Monat beim Halbmarathon in Frankfurt Amanal Petros. Der Läufer des TV Wattenscheid gewann das Rennen überzeugend in 63:31 Minuten. Im Februar hatte er sich in Barcelona auf 62:18 Minuten gesteigert - dies sollte aber noch lange nicht das Ende der Fahnenstange sein.

Nach dem Frankfurter Rennen fuhr Amanal Petros ins Höhentrainingslager nach St. Moritz, um sich dort auf die WM vorzubereiten. Seine Chancen bezüglich einer Platzierung sind sehr schwer einzuschätzen, da etliche Athleten an den Start gehen werden, die in diesem Jahr gar keinen Halbmarathon gelaufen sind und mangels Wettkämpfe auch nur wenige oder keine anderen Rennen absolvieren konnten. Ein Rang unter den Top 30 könnte möglich sein, und Amanal Petros könnte damit vielleicht unter den zehn oder zwölf besten Europäern sein. Das wäre ein Erfolg. Aber vielleicht geht angesichts der Situation auch noch mehr und 25-Jährige kann für eine Überraschung sorgen.

Ebenfalls zwei überzeugende Halbmarathonrennen lief in diesem Jahr Simon Boch (LG Telis Finanz Regensburg). Er steigerte sich in Barcelona im Februar auf 62:31 und erreichte dann in Frankfurt 64:28. Zudem überzeugte der 26-Jährige vor kurzem in Berlin mit einer Zeit von 28:37.

Konstantin Wedel (LG Telis Finanz Regensburg/63:28), Tobias Blum (LC Rehlingen/63:19) und Simon Stützel (LG Region Karlsruhe/63:29), die alle ihre Bestzeiten in diesem Jahr in Barcelona aufstellten, starten ebenso für den Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) in Polen. Gelingt es einem von ihnen, in den Bereich ihrer Bestzeit zu laufen, könnte dies auch eine gute Team-Platzierung bedeuten. Die schnellsten drei kommen in die Mannschaftswertung, wobei die Zeiten addiert werden.

 

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Mit Sifan Hassan aus den Niederlanden hat eine Top-Favoritin abgesagt

Bei den Frauen dürfte es zu einer neuen Auflage des schon klassischen „Langstrecken-Länderkampfes“ zwischen Kenia und Äthiopien kommen. Nachdem mit Sifan Hassan (Niederlande) eine der Topfavoritinnen überraschend auf den Start verzichtet hat, wäre alles andere als eine Siegerin aus Kenia oder Äthiopien eine große Überraschung. Während Ababel Yeshaneh (Äthiopien) und Peres Jepchirchir (Kenia) in Gdynia (Polen) als Favoritinnen gelten, hat auch eine deutsche Läuferin recht gute Platzierungschancen: Melat Kejeta (Laufteam Kassel), die aus Äthiopien stammt und seit März 2019 die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, wird erstmals in ihrer Karriere für Deutschland an den Start gehen.

Es hätte ein hoch interessantes Rennen werden können, wenn neben den Afrikanerinnen noch - die ursprünglich aus Äthiopien stammende - Holländerin Sifan Hassan gestartet wäre. Sie brach vor gut einem Monat in Brüssel den Weltrekord im Stundenlauf und lief vor kurzem einen Europarekord über 10.000 m. Eigentlich sollte die Halbmarathon-WM ihr Saisonhöhepunkt sein - und ihre Topform auf der Bahn machte sie zu einer Titel-Anwärterin. Doch nun verzichtete Sifan Hassan auf diese WM, um sich langfristig voll auf die Olympischen Spiele im nächsten Jahr konzentrieren zu können.

Mit Ababel Yeshaneh und Peres Jepchirchir treffen zwei Läuferinnen aufeinander, die beide in diesem Jahr schon einen Weltrekord über die 21,0975 km lange Distanz aufstellten - und beide diese Marke auch nach wie vor halten. Diese ungewöhnliche Konstellation erklärt sich damit, dass der internationale Leichtathletik-Verband World Athletics seit einigen Jahr bei den Straßenrennen sowohl Frauen-Weltrekorde aus gemischten Rennen (mit Männern, wie im Straßenlauf traditionell üblich) als auch Rekorde aus reinen Frauenrennen führt. Ababel Yeshaneh stellte im Februar in Ras Al Khaimah (Vereinigte Arabische Emirate) den „echten“ Weltrekord auf mit einer Zeit von 64:31 Minuten. Im reinen Frauenrennen von Prag lief Peres Jepchirchir den „Women Only World Record“ von 65:34, verfehlte jedoch ihre persönliche Bestzeit um rund eine halbe Minute (65:06).

Die einzige Europäerin, die zuletzt in ähnliche Bereiche wie die stärksten Afrikanerinnen laufen konnte, ist Lonah Salpeter. Die aus Kenia stammende Athletin wurde in Israel zur Weltklasseläuferin und startet für dieses Land, das im Sport Europa zugehörig ist. Salpeter ist die amtierende 10.000-m-Europameisterin. Sie hat eine Halbmarathon-Bestzeit von erstklassigen 66:09 Minuten und gewann in diesem Jahr den Tokio-Marathon mit einer Jahresweltbestzeit von 2:17:45.

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Melat Kejeta und Debbie Schöneborn führen das DLV-Team für die Halbmarathon-WM an

Melat Kejeta kann am Sonnabend eine sehr starke Premiere im Trikot des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV) laufen. Denn die 28-Jährige, die eine Bestzeit von 68:41 Minuten aufweist und in dieser Saison 68:58 erreichte, geht als siebtschnellste Läuferin ins Rennen, wenn man unter den Starterinnen nur die Ergebnisse dieses Jahres zugrunde legt.

Es sind natürlich eine Reihe von weiteren Athletinnen dabei, die deutlich schnellere Bestzeiten aufweisen, jedoch in diesem Pandemie-Jahr bisher nicht im Halbmarathon gestartet sind. Daher ist schwer einzuschätzen, was für eine Platzierung für Melat Kejeta möglich sein wird. Ein Rang zwischen 15 und 20 wäre sicherlich eine gute Leistung. Doch vielleicht ist mehr möglich, wenn nicht alle in Topform sind. Melat Kejeta hat bei ihrem Sieg in Frankfurt vor rund einem Monat mit einer Zeit von 69:04 Minuten gezeigt, dass sie in der Vorbereitung auf die WM auf einem sehr guten Weg war.

Ein starker Lauf von Melat Kejeta wäre eine Grundlage für ein gutes Team-Resultat der DLV-Athletinnen. Die besten drei einer Nation kommen hier in die Wertung. Deborah Schöneborn (71:37), Rabea Schöneborn (beide LG Nord Berlin/71:40) und Laura Hottenrott (TV Wattenscheid/71:56) haben in diesem Jahr jeweils persönliche Bestzeiten aufgestellt. Außerdem wird Fabienne Königstein (MTG Mannheim) in Gdynia starten. Sie lief in diesem Jahr 74:03 Minuten, hat aber eine persönliche Bestzeit von 71:39.

Nicht starten wird bei der WM Alina Reh (SSV Ulm), die vor kurzem aufgrund eines Dopingfalles einer vor ihr platzierten Läuferin nachträglich die Europameisterschafts-Bronzemedaille 2018 über 10.000 m erhielt. Sie beendete ihre Saison vorzeitig, um die Bundeswehr-Grundausbildung zu absolvieren, nachdem sie in die Sport-Fördergruppe aufgenommen wurde.