Mit blindem Hasen auf Bestzeit-Jagd

| Christian Ermert I Fotos: Norbert Wilhelmi
Steffen Klitschka ist fast blind. Trotzdem läuft er den Marathon schneller als die meisten. Am Sonntag startet er sogar als Hase beim Hamburg-Marathon.

Steffen Klitschka ist fast blind. Vom schnellen Laufen lässt er sich davon aber nicht abhalten. Beim 30. Haspa Hamburg-Marathon am Sonntag macht er Tempo für unseren „Läufer des Jahres“ Rudi Schmidt. Eine Geschichte über gelungene Inklusion. Wer die beiden persönlich kennenlernen möchte, muss am Samstag um 13.30 Uhr auf der Marathonmesse am Stand von laufen.de (Stand 65) vorbeischauen. Dort stehen Steffen und Rudi Rede und Antwort - und natürlich gibt's dort auch Probeexemplare von der ersten Ausgabe von laufen.de - Das Magazin!

Nur an den Verpflegungsstationen wird es manchmal eng. Ansonsten würden die anderen Marathon-Läufer gar nicht merken, dass Steffen Klitschka fast nichts sieht. Vorsichtshalber trägt er zwar ein T-Shirt mit der Aufschrift „Achtung, blinder Läufer“ auf dem Rücken, aber in der Masse eines großen City-Marathons bewegt er sich ganz sicher. Ganz alleine läuft er allerdings nicht. Klaus Stübinger ist immer an seiner Seite. Warnt ihn vor Bordsteinen, weist frühzeitig auf Richtungswechsel hin.

Und das ganz schön schnell. Beim Haspa Hamburg-Marathon laufen sie in Richtung 3:15 Stunden. Aber nicht nur für sich selbst. Das Duo macht Tempo für Rudi Schmidt, der im vergangenen Jahr von der laufen.de-Community im Internet zum „Hobbyläufer des Jahres“ gewählt wurde. Der 35-Jährige will eine neue Bestzeit aufstellen. Und gleichzeitig ein Zeichen setzen, dass Nichtbehinderte und Behinderte wie selbstverständlich gemeinsam im Wettkampf antreten. „Mich hat seine Geschichte fasziniert“, erklärt Rudi Schmidt, wie es zu dem Inklusions-Projekt kam. Steffen Klitschka hat in den 80er-Jahren mit dem Laufen begonnen. In der DDR, in einem kleinen thüringischen Dorf an der sogenannten „Zonengrenze“ zu Bayern.

2:22 Stunden mit 20 Jahren

14 Jahre alt war er, als er in Neuenbau zum ersten Mal die Turnschuhe fürs Lauftraining schnürte. Schon damals sah er nicht gut und wusste, dass seine Augen immer schlechter werden würden. Bis zum vollkommenen Erblinden. Die Ursache dafür liegt in einer Erkrankung, die er als Säugling erlitten hatte. Mit dem Laufen fing er an, um ein Mädchen zu beeindrucken. Fußball kam ja schon damals nicht infrage. „Das ist ja blöd, wenn man den Ball nicht sieht“, sagt er. Beim Laufen hingegen fühlte er sich vom ersten Schritt an wohl. „Und irgendwann war ich dann so besessen davon, dass ich für das Mädchen, um das es ging, auf einmal keine Zeit mehr hatte.“

Er hatte Talent, trainierte viel, und mit 20 Jahren lief er in Budapest den Marathon in 2:22:22 Stunden. Da war er beim ASK Potsdam in der DDR-Sportförderung. Doch kurz darauf hieß es, er habe zu wenig Talent, um es an die Weltspitze zu schaffen. Er wurde aussortiert. Auch weil er damit liebäugelte, die Tischlerei seiner Eltern zu übernehmen. Bis 1992 arbeitete er dann dort als Schreiner. Doch dann wurden seine Augen zu schlecht, und er wechselte zur Müllabfuhr, wo er zehn Jahre arbeitete, bis auch dafür seine Sehkraft nicht mehr ausreichte. Heute lebt er von seiner Rente wegen voller Erwerbsminderung.

„Eigentlich ja eine komische Idee“, erzählt Steffen Klitschka bei einem Vorbereitungslauf auf den Hamburg-Marathon, den er zusammen mit Rudi Schmidt und Klaus Stübinger absolviert. „Ein fast Blinder, der Schreiner wird“, sagt er, zeigt seine Hände und lacht. An jeder sind noch fünf Finger. So ist er, der Steffen Klitschka. Ganz entspannt und locker geht er mit seiner Erkrankung um. Auch wenn sein Sehvermögen immer mehr nachlässt. Zuletzt waren es noch fünf Prozent auf dem rechten Auge, auf dem linken ist er blind.

Damit hat er in den vergangenen Jahren große Lauf-Abenteuer unternommen. Ist in 30 Tagen vom Holmenkollen in Oslo bis ans Nordkap gelaufen. Das sind 2000 Kilometer, die er zusammen mit Holger Stoek zurückgelegt hat. Fast Immer dabei auch seine Frau Kathrin, die das Wohnmobil gesteuert hat, in dem die beiden übernachtet haben. Und der Blindenhund Xabi, ein blonder Labrador, der den Namen eines großen Fußballers trägt, weil sein Ausbilder jeden seiner Hunde nach Fußball-Profis benennt. Und der von Steffen Klitschka heißt nach Spaniens Nationalspieler Xabi Alonso, der seit dieser Saison für Bayern München kickt.

Trainingsläufe mit Warnweste

Bei den Marathonläufen darf Xabi aber nicht mit. Hunde sind bei Wettbewerben nicht erlaubt. Weder in München noch in Freiburg, wo Steffen Klitschka jeweils zweimal finishte, und auch nicht auf der chinesischen Mauer. 2008 erfüllte sich der Thüringer den Traum vom Lauf auf der Mauer. Zuvor ist er den Jakobsweg entlanggejoggt, hat den Mount Kenia bestiegen, ist auf den Mont Blanc geklettert und vom thüringischen Sonneberg nach Rügen gelaufen. Dreimal hat er die Marathon-Distanz unter 2:30 Stunden bewältigt, auch noch nach seinem Ausstieg aus dem DDR-Leistungssportsystem.

Er trainiert heute noch auf der gleichen Strecke, wo er vor 35 Jahren mit dem Laufen begonnen hat. Allein, ohne Begleitläufer, ohne Hund geht er jeden Tag raus und läuft auf der Straße, die an seinem Haus in Neuenbau vorbeiführt. „Ich ziehe eine Warnweste an, damit mich die Autofahrer sehen“, sagt er. Auf der Strecke kennt er jeden Zentimeter Asphalt und rund um seinen Heimatort kennt jeder den blinden Läufer. Man nimmt Rücksicht.

Bei einem seiner Trainingsläufe ist Steffen Klitschka vor einigen Jahren dann Gernot Weigl begegnet. Der Chef des München-Marathons hatte in seinem Hauptberuf als Immobilienmakler in der Gegend um Sonneberg am Rennsteig zu tun. Er hörte von Steffen Klitschka, interessierte sich für den blinden Läufer und lud ihn nach einem Gespräch zum München-Marathon ein. „Aber du brauchst einen Begleitläufer“, sagte er und schlug Klaus Stübinger für den Job vor. Der 50-Jährige ist 2003 (mit fast 40 Jahren) in 2:29 Stunden seine Bestzeit im Marathon gelaufen und betreut heute nach Ausflügen auf die 100 Kilometer und ins Triathlonlager einige Läufer rund um München als Trainer. Er hat beim München-Marathon oft Tempo für die Drei-Stunden-Läufer gemacht und war sofort begeistert von der Idee, den fast blinden Läufer zu 3:15 Stunden zu führen.

Und nach dem Zieleinlauf im Münchner Olympiastadion hatten die beiden dann ein ganz besonderes Erlebnis: Zum Duschen durften sie wie die erstplatzierten des Rennens in die Kabinen, in denen bis 2005 die Spieler von Bayern München daheim waren. „Da hängen noch die Namensschilder von Oliver Kahn & Co.“, ist Klaus Stübinger beeindruckt. Ähnlich beeindruckt waren aber auch die schnellsten Läufer des München-Marathons, als sie beim Duschen auf die Figur von Steffen Klitschka blickten. Der 49-Jährige wiegt gut 85 Kilogramm – und ist keine 1,85 Meter groß. „Die konnten es kaum glauben, dass man mit so einem Bauch 3:15 Stunden laufen kann“, sagt Steffen Klitschka, „aber ich laufe halt nicht nur gern, sondern liebe auch gutes Essen und Trinken.“

Und in der Beziehung passt er ganz gut zu unserem „Läufer des Jahres“ Rudi Schmidt, der auch neben dem Laufen nicht das Leben vergisst. Er hat drei Kinder, baut grade ein Haus und arbeitet bei VW als Ingenieur. Und trotzdem findet er nicht nur Zeit für das eigene Training, sondern auch dafür, immer mehr Menschen mit Aktionen wie dieser fürs Laufen zu begeistern.