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Karrieren im Laufbusiness
Philipp Pflieger: Vom Olympialäufer zum Unternehmer und Kämpfer gegen Gewalt an Frauen

| Text: Maria Hauser | Fotos: Imago Images, privat

Mit nur 28 Jahren wäre seine Laufkarriere fast schon vorbei gewesen. Doch dann qualifizierte sich Philipp Pflieger für Olympia 2016 in Rio. Das war auch der Start seiner Karriere nach dem Profisport.

Während die meisten in jungen Jahren noch gar nicht an eine mögliche Karriere denken oder die Berufswünsche sich von Ballerina über Pilotin noch ein dutzend Mal verändern, war für Ex-Langstreckenläufer Phillip Pflieger eine Sache schon klar, als er 9 Jahre alt war: „Ich möchte mit dem Laufsport zu Olympia.“ Das ist ihm gelungen.

2015 lief er den BMW Berlin-Marathon in 2:12:50 Stunden. In der Vor-Carbon-Ära war diese Zeit viel mehr wert als heute und reichte für die Olympia-Qualifikation. Warum die Olympischen Spiele 2016 in Rio dann aber dennoch nicht das Highlight seiner sportlichen Karriere oder gar seines Lebens waren und wie man sich als Profi-Athlet nach der Spitzensportkarriere neu erfinden kann, verrät Phillip Pflieger in diesem Interview.

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Philipp, wie kam es dazu, dass du dich vor fast 25 Jahren schon für den Profisport entschieden hast?

Daran hatte mein erster Leichtathletik-Trainer einen sehr großen Anteil. Harald Olbrich, der leider 2021 überraschend verstorben ist, hat uns beim VfL Sindelfingen im Training ganz schön viel abverlangt. Aber gleichzeitig vermittelte er uns das Mindset eines Spitzensportlers. Von Anfang an hat er uns gesagt, dass alles möglich ist. Natürlich wollte damals jeder von uns zu Olympia, aber Harald hat uns dazu gebracht, auch daran zu glauben.

Du bist 2007 fürs Studium nach Regensburg gezogen und hast dort den Bachelor in Politik- und Medienwissenschaft sowie in Geschichte abgeschlossen. Wie hat sich das Studium auf deine berufliche Karriere ausgewirkt?

Es hat mir sicher geholfen, die Strukturen im Sport mit den Vereinen, Verbänden und Sponsoren zu durchschauen – und manchmal auch kritisch zu hinterfragen. Als Laufprofi war für mich von Anfang an klar, dass ich mich finanziell nicht zu sehr vom Deutschen Leichtathletik-Verband abhängig machen möchte, der ja über Kaderzugehörigkeiten und Nominierungen entscheidet. Ich war immer offen für Kooperationen mit Sportmarken. Wie wirtschaftlich erfolgreich man als Athlet ist, hängt eben nicht nur davon ab, wie schnell man läuft oder wie weit man springt. Ich habe schon mit Beginn des Studiums angefangen, mich für Social Media zu interessieren. Besonders spannend fand ich die Möglichkeit, auf eigenen Kanälen Einblicke in mein Leben als Sportler zu geben und so unabhängig von den klassischen Medien interessierte Menschen zu erreichen. Dabei war mein Anspruch immer, möglichst authentisch zu sein.

Von damals bis heute bist du deinem Partner Adidas eng verbunden. Wäre diese langjährige Partnerschaft auch möglich gewesen, wenn du dich ausschließlich auf dein Training und sportliche Erfolge konzentriert hättest?

Ich glaube nicht. Ich habe schon als Profi viel mehr gemacht als Training und Wettkämpfe. Ich habe aus Neugierde viele Kontakte geknüpft und selten „Nein“ gesagt, wenn sich Möglichkeiten ergeben haben. Auch wenn meine Aktivitäten für Profisportler manchmal etwas ungewöhnlich waren. Einmal hat mich an einem Freitagabend um 21 Uhr meine damalige Adidas-Managerin angerufen und gefragt, ob ich am nächsten Tag eine Talkrunde moderieren könnte, weil ein Sprecher kurzfristig ausgefallen war. Ich habe „ja“ gesagt und nachts noch wie irre recherchiert, um den Talk vorzubereiten. Ich glaube, dieser Offenheit während meiner Karriere habe ich auch mein jetziges Berufsleben zu verdanken.

Gibt es einen Höhepunkt in deiner Zeit als Spitzensportler, an den du dich besonders gut erinnerst?

Wahrscheinlich erwarten alle, dass Olympia 2016 mein größtes Erlebnis war. Aber die Spiele von Rio de Janeiro kommen – wenn auch sehr knapp – nur auf den zweiten Platz. Am besten erinnere ich mich an die Olympiaqualifikation beim Berlin-Marathon 2015. Ein Jahr zuvor war ich bei meiner Marathon-Premiere in Frankfurt grandios gescheitert. Ich habe die Distanz komplett unterschätzt und bin mit der Einstellung in den Wettkampf gegangen, dass das bestimmt der entspannteste Lauf meines Lebens wird. Ich war die Halbmarathondistanz ja schon deutlich schneller gelaufen als mein geplantes Durchgangstempo bei den 42,195 Kilometer. Diese Vorstellung war überheblich und dumm. Ich bin dann nicht ins Ziel gekommen, weil mein Kreislauf dieses Tempo nicht mal annähernd einen Marathon lang durchgehalten hat. Das war Ende Oktober 2014 und danach habe ich erstmal zwei Monate komplett Pause gemacht. Nicht mal für fünf Kilometer um den Block konnte ich mich motivieren. Den Spaß am Sport hatte ich komplett verloren. Ich dachte damals: Das war’s. Ich höre auf.

Aber du hast nicht aufgehört …

… weil eines Tages mein bester Freund auf der Matte stand und sagte „Wir gehen jetzt laufen und übrigens: Ich habe uns beiden ein Trainingslager in Monte Gordo gebucht. Da kommst du auch mit.“ Ich hatte zwar immer noch keine Lust zum Laufen, aber zu der Reise in Portugal konnte ich schlecht „nein“ sagen. Und so fiel im Frühjahr 2015 die Entscheidung, dem Marathon im Herbst in Berlin eine zweite Chance zu geben. Mir war klar, dass sich bei diesem Wettkampf alles entscheiden würde. Ich habe mir ein Ultimatum gesetzt: Wenn ich die Olympia-Qualifikation nicht schaffe, war es das mit meiner Profikarriere. Und dann habe ich wirklich für den Marathon trainiert und bin Ende September mit einer Top-Form in Berlin angetreten. Den Start sehe ich heute noch genau vor mir. Es war ein wunderschöner Morgen. Sonnig, aber kühl genug zum schnellen Laufen. Den Countdown der letzten 15 Sekunden mit dieser typischen Berlin-Musik habe ich kaum noch ausgehalten. Ich wollte los, weil ich genau wusste, dass die nächsten gut zwei Stunden über meine Karriere entscheiden. Nach 30 Kilometern sind die Pacemaker dann raus und ich bin mit zwei Belgiern gelaufen, die das Tempo ordentlich angezogen haben. Aber ich bin mitgegangen. So sind wir alle drei bei Olympia in Rio gelandet. Das war der geilste Sporttag meines Lebens, ich war noch nie so schnell und noch nie so lange im Flow.

In Rio warst du dann bei Olympia 2016 mit 2:18:56 Stunde auf Platz 55 der beste Deutsche. Deine Karriere ging danach noch länger weiter als du es vielleicht selbst erwartet hättest. Was hat dich 2023 veranlasst, den Schlussstrich unter das Kapitel Profisport zu ziehen?

Ich bin Vater geworden und wollte mir mehr Zeit für meine Familie nehmen. Der professionelle Sport macht einen sehr egozentrisch. Die eigene Person und deren Leistung steht immer im Mittelpunkt. Du hast so viele Menschen um dich herum, die sich nur mit dir beschäftigen. Trainer, Physiotherapeuten, das ganze Team. Als meine Tochter geboren wurde, war mir sehr schnell klar: Dieses Leben ist jetzt vorbei, jetzt kommt ein neuer Lebensabschnitt, in dem es weniger um mich und mehr um meine Familie geht.

Als Profiläufer warst du schon Teil des Business, das rund ums Laufen immer größer wird. Wie hast du es geschafft, nach der Profikarriere in anderen Rollen in diesem Geschäft zu bleiben?

Das liegt sicher an meiner Neugierde für alles, was in der Sportbranche neben Training und Wettkampf passiert. Ich arbeite seit 13 Jahren mit Adidas zusammen. In der Corona-Zeit haben TV-Kommentator Ralf Scholt und ich den Podcast „Bestzeit“ ins Leben gerufen. Mittlerweile hatte ich auch schon die Ehre, für Eurosport als Experte Laufevents im Fernsehen zu kommentieren. Heute ist mein Arbeitsalltag sehr abwechslungsreich und ich genieße viele Freiheiten. Aber allein hätte ich das nicht geschafft. Ich habe tolle Menschen an meiner Seite. An Silvester 2021 habe ich meinen besten Freund Felix Plinke nach ein Paar Gläsern davon überzeugt, mein Manager zu werden. Darin ist er mittlerweile ein Meister und nimmt mir Verantwortung ab. Er war auch der Freund, der mich nach dem Desaster beim Frankfurt-Marathon zum Trainingslager in Portugal überredet hat und so 2015 meine Laufkarriere gerettet hat.

Ihr beiden habt auch das Kaffee-Projekt „Moyo“ gestartet, bei dem ihr in Kenia angebauten Kaffee verkauft und mit dem Erlös Projekte unterstützt, die gegen Gewalt an Frauen in Afrika kämpfen.

Ausgangspunkt war ein Trainingslager in Kenia m Frühjahr 2022. Nur ein paar Monate zuvor war in Iten die kenianischen Läuferin Agnes Tirop ermordet worden. Als Tatverdächtiger wurde ihr Ehemann festgenommen. Fünf Wochen vor ihrem gewaltsamen Tod hatte sie in Herzogenaurach den Weltrekord der Frauen über zehn Kilometer auf 30:01 Minuten verbessert. Agnes Tirop war auch Adidas-Athletin, deshalb hat mich der Mord an ihr noch mehr mitgenommen. Mir wurde bewusst, welch großes Problem Gewalt gegen Frauen in Kenia ist. Noch während meines Trainingslagers haben dann Freundinnen von Agnes Tirop in Iten eine Organisation gegründet, um sich gegen Gewalt an Frauen einzusetzen. Seitdem leisten „Tirop’s Angels“ in Kenia Bildungsarbeit – mit dem Ziel, die Gewalt gegen Frauen zu stoppen. Oft an Schulen, wo sie Mädchen und Jungen darüber aufklären, wie gefährlich starre Geschlechterrollen und damit verbundene Erwartungshaltungen sein können. Manchmal werden diese Events auch mit Sichtungsläufen für junge Mädchen kombiniert. Ich war von Anfang an Feuer und Flamme für dieses Projekt.

Und warum unterstützt du es ausgerechnet mit dem Verkauf von Kaffee?

Ich liebe Kaffee – wie viele Läuferinnen und Läufer. Vielleicht bin ich sogar ein bisschen süchtig. Kaffee hilft mir auf jeden Fall im Alltag zu funktionieren. Und Koffein steigert ja erwiesenermaßen die Ausdauerleistungsfähigkeit, ohne illegales Doping zu sein. Und dann hatte ich die Idee, beides zu tun: Kaffeebauern in Kenia zu unterstützen und gleichzeitig mit den Erlösen gegen die Gewalt an Frauen in ihrem Land zu kämpfen.

Was war die größte Herausforderung bei der Gründung einer eigenen Kaffeemarke?

Wir wollten unbedingt Kaffeebohnen aus der Region rund um Iten in Kenia beziehen. Das Problem ist, dass die meisten Bohnensorten von dort für den deutschen Geschmack zu sauer sind. Wir haben unglaublich viel Kaffee blind verkostet, bis wir endlich eine Sorte gefunden hatten, die geschmacklich auch ohne die Zumischung anderer Bohnen überzeugte. Wir haben uns dann mit dem Kaffeebauern getroffen und uns angeschaut, wie diese Bohnen angebaut werden. Seitdem arbeiten wir mit ihm zusammen. Die Idee hinter dem Projekt war nie das große Geld. Das geht gar nicht, wenn man eine nachhaltige Verpackung sowie faire Produktionsbedingungen realisieren will und auch die Geschichte von Agnes Tirop erzählen will. Unser Ziel ist es, mit Moyo einen stabilen Spendenfluss für „Tirop’s Angels“ aufzubauen.

Der Fairtrade-Kaffee „Moyo“ von Philipp Pflieger …

… ist bei seinem Charity-Partner Plan International erhältlich. Für jedes verkaufte Kilo Moyo-Kaffee geht ein Euro an „Tirop’s Angels“. Der Geschenkbox mit 500 Gramm Kaffee in ganzen Bohnen liegt ein Booklet mit Trainingstipps von Philipp Pflieger bei.