Nach WM-Verzicht
Sebastian Hendel im Porträt: Von Träumen, Marathon und täglicher Disziplin
Sebastian Hendel hat sich 2024 beim BMW Berlin-Marathon auf 2:07:33 Stunden gesteigert. Er ist der fünftschnellste Deutsche aller Zeiten. Doch bei der WM in Tokio will er dieses Jahr nicht starten.
Samuel Fitwi (2:04:55 h), Amanal Petros (2:04:58 h), Richard Ringer (2:05:46 h), Hendrik Pfeiffer (2:07:14 h) und Sebastian Hendel (2:07:33 h). Das sind nicht bloß die fünf schnellsten deutschen Marathonläufer aller Zeiten, sondern auch jene, die sich mit ihren Leistungen in den Jahren 2024 und 2025 für einen Start über die 42,195 Kilometer bei den Leichtathletik-Weltmeisterschaften am nachdrücklichsten empfohlen haben. Während Amanal Petros (Hannover 96), Richard Ringer (LC Rehlingen) und Hendrik Pfeiffer (Düsseldorf Athletics) bei der WM starten wollen, haben die beiden anderen angekündigt, im nacholympischen Jahr auf die globalen Titelkämpfe zu verzichten, die vom 13. bis 21. September im japanischen Tokio stattfinden. Die Nominierung des deutschen Marathonteams für Tokio durch den Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) wird demnächst erwartet.
Der deutsche Rekordhalter Samuel Fitwi (Silvesterlauf Trier e.V.) wird definitiv nicht zu dem deutschen Trio für die WM gehören. Er wird seinen nächsten Marathon am 31. August im australischen Sydney laufen. Das gab der deutsche Rekordler diese Woche in Trier bekannt: „Sydney ist neu im Kreis der World-Marathon-Major-Serie und es reizt mich, bei dieser Premiere anzutreten.“ Hendrik Pfeiffer dagegen sagt, dass er „liebend gern starten würde, wenn ich die Chance bekomme und es mir eine Ehre wäre, zumal ich bisher noch nie bei einer WM gestartet bin. Bis zum Herbst habe ich auch genug Zeit, um wieder meine Topform zu erreichen. Von der Fersen-Operation habe ich mich jedenfalls gut erholt.“

Sebastian Hendel jagt die Kadernorm in Berlin statt bei der WM in Tokio zu starten
Unterdessen hat aber jetzt auch Sebastian Hendel vom Marathon Team Berlin erklärt, auf die WM in Tokio zu verzichten. „Ich war hin- und hergerissen“, erklärt er im Interview mit laufen.de. „Einerseits macht man diesen Sport für genau solche Erlebnisse, um sein Land bei einer Weltmeisterschaft vertreten zu dürfen. Andererseits sind Meisterschaftsrennen selten schnell. Da geht es ums Taktieren, nicht um Bestzeiten.“ Aber genau die braucht er, um die Kadernorm zu erfüllen, die der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) gesetzt hat. 2:07:00 muss Sebastian Hendel laufen, um die finanzielle Absicherung klarzumachen, die mit der Mitgliedschaft im Perspektivader verbunden ist.
„Bei einer Marathon-Weltmeisterschaft ganz vorne mitzulaufen, wird extrem schwer für mich“, sagt er offen. Umso mehr liegt der Fokus nun auf einem schnellen Marathon im Herbst. Sebastian Hendel plant wieder mit dem BMW Berlin-Marathon. Und dort will er wieder einen großen Schritt nach vorn machen. So wie 2024 als er sich dort von 2:08:51 auf 2:07:33 Stunden steigerte. Der 29-Jährige hat manchmal sogar jene 2:05 Stunden im Kopf, die bislang nur von zwei Deutschen unterboten wurden: von Amanal Petros (Hannover 96) und Samuel Fitwi.
Denn Sebastian Hendel läuft nach dem Motto: „If you can’t dream it, you can’t be it.“ Gesagt hat das der ehemaligen britischen Ausnahmeläufer Mo Farah. Wer noch nicht einmal von etwas träumen kann, wird es niemals schaffen. Und wer hätte auch vor ein paar Jahren gedacht, dass es einmal fünf Deutsche in einer Marathongeneration geben würde, die alle die 42,195 Kilometer in weniger als 2:08 Stunden laufen. Vor 2020 galten Marathonzeiten von 2:12 Stunden als deutsche Spitzenleistungen, von der Weltelite war man weit entfernt. Auch der ehemalige deutsche Rekord von Arne Gabius (2:08:33 Stunden im Jahr 2015) schien lange unerreichbar. Heute, rund fünf Jahre später, haben acht Läufer Zeiten unter 2:10 Stunden erzielt – sieben von ihnen blieben sogar unter der Rekordmarke von Gabius. Auch an das internationale Niveau rücken die deutschen Athleten langsam, aber sicher heran. Einer von ihnen ist Sebastian Hendel.

Durchbruch beim BMW Berlin-Marathon 2024: Sebastian Hendel als bester Deutscher im Ziel
Für ihn liegt die Ursache für diese erstaunliche Entwicklung im Marathon nicht nur in technologischen Fortschritten wie der Einführung der Carbonschuhe oder der verbesserten Kohlenhydratzufuhr im Rennen. Vielmehr betont er die Bedeutung der Konkurrenz in der deutschen Marathonszene: „Die großen Leistungssteigerungen in den letzten Jahren sind vor allem auf die enorme Leistungsdichte im deutschen Marathon zurückzuführen. Carbonschuhe spielen mit Sicherheit auch eine Rolle, aber ohne einen Samuel, einen Amanal, einen Richard oder einen Hendrik und das ständige gegenseitige Unterbieten unserer Bestzeiten in den letzten Jahren, hätten auch die besten Schuhe am Ende wenig bewirkt.“
Und wenn der deutsche Rekord bei 2:04 Stunden steht, sorgt das dafür, dass alle Topläufer daran glauben, das vielleicht schaffen zu können. „Man passt seine eigenen Limits an, weil man sieht, was im nationalen Umfeld plötzlich möglich ist“, sagt Sebastian Hendel, „ohne diese hohe Leistungsdichte würde man bei Wettkämpfen weniger Risiken eingehen. So aber pushen wir uns gegenseitig nach vorn.“
Ein Blick auf den Alltag von Sebastian Hendel zeigt, wie viel Disziplin hinter solchen Leistungen steckt. Das Training ist das eine: In der Marathonvorbereitung legt er wöchentlich rund 180 bis 200 Kilometer zurück. Neben dem reinen Laufen, spielen auch Schnelligkeit und Krafttraining eine große Rolle. „Man muss das alles in sieben Tagen unterbringen. Es braucht viel Erfahrung, um zu wissen, welche Einheit wann sinnvoll ist – und wie man dabei die Regeneration nicht vernachlässigt. Ziel ist es, solche Wochen mehrfach hintereinander durchzuziehen“, erklärt er. Ein Balanceakt, bei dem es darauf ankommt, genau die richtige Mischung aus Belastung und Erholung zu finden.
Auch abseits des Sports ist das Leben von Sebastian Hendel alles andere als langweilig: Er ist Familienvater, absolviert ein Diplomstudium im Wirtschaftsingenieurwesen und arbeitet nebenbei als IT-Projektmanager bei einer Unternehmensberatung. Sein Tagesablauf ist durchgetaktet: „Ich stehe früh auf, bringe meinen Sohn zur Schule, arbeite zwei bis drei Stunden, mache mein erstes Training, arbeite danach noch mal zwei bis drei Stunden – und dann nach dem zweiten Training ist der Tag eigentlich auch schon vorbei.“
Im Hause Hendel ist der Leistungssport Familiensache: Auch Sebastians Frau Kristina ist Profiläuferin und ebenfalls auf der Marathondistanz zu Hause. Mit ihrer Bestzeit von 2:27:29 Stunden gehört sie zu den Top 20 aller Zeiten in Deutschland. 2022 holte sie bei den Europameisterschaften mit dem deutschen Marathonteam Gold. Da kann es vorkommen, dass beide parallel auf Wettkämpfen unterwegs sind. Zum Glück lebt die ganze Familie in der Nähe: „Eltern, Großeltern, Geschwister – alle wohnen in derselben Region. Das macht vieles leichter.“ Die Hendels leben alle im sächsischen Vogtland. Das 20.000-Einwohnerstädtchen Reichenbach liegt auf halbem Weg zwischen Chemnitz und dem bayerischen Hof.

Nach Krankheitsproblemen im Winter: Saisonauftakt in Herzogenaurach
Trainiert wird Sebastian seit vielen Jahren von seinem Vater – und das mit großem Erfolg. Zwei deutsche Meistertitel über 5.000 und 10.000 Meter, zahlreiche Top-Platzierungen auf Bahn und Straße sowie sein beeindruckendes Marathondebüt 2022 in München (2:10:37 Stunden) sprechen für sich. Seitdem gehört er zur nationalen Spitze im Marathon – und entwickelt sich immer weiter. Auf die Frage, ob der deutsche Rekord von 2:04 Stunden langfristig ein realistisches Ziel sei, antwortet er diplomatisch: „Man liebäugelt schon immer ein bisschen und steckt sich schon hohe Ziele und Träume. Spätestens die letzten Wochen vor dem nächsten Marathon werden dann zeigen, in welche Richtung es gehen kann.“
Nach seinem starken Auftritt beim BMW Berlin-Marathon 2024 hatte Sebastian Hendel für die Saison 2025 eigentlich große Pläne: Ein schneller Frühjahrsmarathon sollte die Kadernorm bringen, gefolgt von einem möglichen Start bei der Weltmeisterschaft in Tokio. Doch eine längere krankheitsbedingte Ausfallzeit im Winter machte einen Start bei einem Frühjahrsmarathon zunichte – und nach reichlicher Überlegung auch einen möglichen WM-Start, der nach Samuel Fitwis Absage plötzlich wieder in greifbare Nähe rückte.
„Es war definitiv keine leichte Entscheidung“, sagt Hendel. „Das ist einfach das große Problem beim Marathon als Leistungssport: Man hat im Jahr nur zwei, höchstens drei Rennen, bei denen alles passen muss. Bei mir ist jetzt leider eine dieser wenigen Chancen im Frühjahr weggefallen.“ Er musste sich schließlich entscheiden: Ein emotionales Event wie die Weltmeisterschaft oder ein schneller Herbstmarathon, der ihm vielleicht die Kadernorm und damit die nötige Sicherheit für das kommende Jahr bringen würde. „Es wurde schon viel über das Thema diskutiert, aber ich finde, dieses Dilemma zeigt relativ anschaulich die Herausforderungen des Förderungssystems in Deutschland. In anderen Ländern gibt es oft einfach mehr finanzielle Mittel, die eine breitere Unterstützung ermöglichen – nicht nur für die absoluten Medaillenkandidaten. Ohne diese breitere Förderung wird es jedoch schwer, langfristig etwas Nachhaltiges aufzubauen“, fasst er die Situation zusammen.
Bei Sebastian liegt der Fokus nun auf einer stabilen, verletzungs- und krankheitsfreien Vorbereitung – mit dem Ziel, im Herbst beim BMW Berlin Marathon wieder voll anzugreifen. Bis dahin stehen noch zwei Halbmarathons in Tschechien und ein Start bei der Adidas Runners City Night in Berlin über zehn Kilometer auf dem Plan. Einen ersten Formtest absolvierte er bereits Ende April beim von adidas organisierten adizero Road to Records-Event über zehn Kilometer. Er selbst gab seinem Rennen zwar nur die Note „zwei minus bis drei plus“, aber alles in allem spiegelt die Zielzeit von 29:30 Minuten ungefähr das wider, was sich im Training der letzten Wochen angedeutet hat. „Unterm Strich kann ich trotzdem ganz zufrieden sein, glaube ich“, meinte er nach dem Rennen. „Der erste Wettkampf nach so langer Zeit ist einfach taff. Man muss erst wieder reinkommen und lernen, auch die letzten Körner zu mobilisieren.“ In ein paar Monaten will Sebastian Hendel mit dieser Einstellung die vierfache Distanz in Angriff nehmen. Sein Ziel ist klar: ein schneller Marathon im Herbst – vielleicht sogar mit Blick auf den deutschen Rekord. Ganz im Sinne seines Lieblingszitats: „If you can’t dream it, you can’t be it.“