Laufschuh-Entwickler im Interview
So entsteht der perfekte Laufschuh

Jedes Jahr kommen rund 200 neue Laufschuhe auf den Markt. Aber wie entsteht so ein Schuh? Andre Kriwet spricht im Interview über Ideen, Design, Trends und Nachhaltigkeit beim Bau von Laufschuhen.

Andre Kriwet gehört zu den renommiertesten Laufschuh-Entwicklern weltweit. Nach seinem Studium arbeitete er für viele große Marken. Für Asics, viele Jahre für Nike und anschließend stieg er beim Hersteller Brooks bis zum Senior Vice-President Global Footwear Development auf.

2011 zog es ihn von Seattle zurück in seine Heimat Münster. Er gründete 2018 gemeinsam mit Prof. Dr. Gert-Peter Brüggemann und Christian Arens die Laufschuh-Marke True Motion.

Für Laufschuh-Enthusiasten hast du den wahrscheinlich besten Job der Welt. Siehst du das auch so?
Andre Kriwet: Na klar! (lacht) Aber es ist eben auch eine ganz schöne Sisyphusarbeit. Das sieht man dem Produkt kaum an. Wir entwickeln bei True Motion aktuell einen neuen Schuh, der 2023 auf den Markt kommt. Bis man die ganzen Einzelteile in der perfekten Konfiguration zusammen hat, ist viel Abstimmung und Kommunikation notwendig. Bis wir sagen können: Jetzt ist alles super, der fühlt sich gut an, der rollt gut ab, der passt, der schnürt perfekt – da vergeht viel Zeit. Und man braucht gute Nerven.

Nimm uns mal mit: Wie entsteht die Idee für einen neuen Laufschuh? Nachts im Traum, mit einer Skizze am Schreibtisch, in stundenlangen Meetings? Oder beim Laufen?
Andre Kriwet: Peter (Prof. Dr. Gert-Peter Brüggemann, Mitgründer von True Motion – Anmerk. der Redaktion) und ich sind im ständigen Austausch. Jeder von uns liest viel und ich laufe viel. Die Ideen kommen tatsächlich beim Laufen. Deswegen laufe ich auch nur mit meinem Hund, um nicht quatschen zu müssen. Ich höre in den Schuh rein und überlege mir dabei, was noch besser werden könnte.

Wie wichtig ist dabei die wissenschaftliche Expertise?
Andre Kriwet: Für uns sehr wichtig. Peter ist ja Wissenschaftler durch und durch. Er kennt jede Studie, ist selbst im Labor, er forscht und analysiert. Und dann fällt ihm plötzlich was zum Abduktionsmoment im Knie auf und er hat eine Idee, was man noch besser machen könnte. Er ist eine ständige Inspiration. Wir haben dabei aber immer den Endkonsumten und die Endkonsumentin im Blick. Die Frage, die uns antreibt, lautet immer: Was ist der konkrete Vorteil für Läuferinnen und Läufer.

Was passiert nach einer Idee?
Andre Kriwet: Normalerweise reden dann sehr viele Menschen mit. So kenne ich das von meinen vorherigen Arbeitgebern. Ich habe schon viele Stunden in Meetings gesessen, in der die Vertriebsmannschaft mitdiskutiert, wie ein Schuh sein sollte. Ich bewundere diese Menschen, aber die haben natürlich einen ganz anderen Fokus. Bei uns ist vieles einfacher. Wir sind ein sehr kleines Team, treffen Entscheidungen viel schneller. Aber wir riskieren auch jedes Mal Kopf und Kragen. Wir haben nur vier, demnächst vielleicht fünf Modelle. Da muss alles passen. Wenn eine große Marke 20 Modelle hat und eines davon funktioniert mal nicht, dann ist das kein Weltuntergang. Bei uns wäre das eine Katastrophe, die zum Glück noch nicht eingetreten ist.

Welche sind die wichtigsten Schritte bis der Schuh irgendwann im Laden steht?
Andre Kriwet: Oh, das ist ein weiter Weg. Beispiel: Ich finde es immer schön, wenn Laufschuhe am unteren, äußeren Rand und unter dem Großzehgrundgelenk eine gute Dämpfung haben. Das hat auch Sinn, weil sich dort die knöchernen Strukturen vom Fuß befinden. Meine Idee bespreche ich dann mit Peter, dem Biomechaniker, der ein unglaubliches Wissen über die menschliche Anatomie und Bewegungsabläufe hat. Und dann fange ich erstmal an, an einer neuen Idee zu kneten, während Peter zeichnet.

Ihr seid eure eigenen Designer?
Andre Kriwet: Nein, nein. Aber wir müssen unsere Ideen ja visualisieren. Der Designer ist enorm wichtig. Der bietet uns Lösungen für unsere Ideen. Er ist Profi und zeichnet dann erste Entwürfe ...

... und dann wird wahrscheinlich wieder diskutiert ...
Andre Kriwet: ... genau (lacht). Wir reden schon ziemlich viel. Aber irgendwann einigen wir uns auf ein Konzept. Dann beginnt die Detailarbeit. Das Innenleben wie Querschnitte, Höhen und Kanten wird per Computer als 2D- und später als 3D-Zeichnung angefertigt. Daraus wird schließlich eine erste Form per 3D-Drucker hergestellt. Das erste Schuhmodell besteht aus Holzspahn. Darin kann man zwar nicht laufen, aber man sieht, ob das Design grundsätzlich passt.

Und wann kommen die Produzenten ins Spiel?
Andre Kriwet: Wenn wir mit dem Design zufrieden sind, senden wir das Modell und die Entwürfe nach Asien. Dort wird eine computergenerierte 3D-Zeichnung angefertigt. Mit dieser ist der Produzent in der Lage, eine Form für die Pressung der Sohle herzustellen. Kurz danach bekommen wir erste Muster. Dann kümmern wir uns um das perfekte Obermaterial für den Schuh und seinen Einsatzzweck. Gibt es ein neues Meshmaterial, neue Strickverfahren? Wie verbinden wir Mittelsohle und Schaft optimal? Die Anatomie spielt auch hier eine große Rolle. Beim neuen U-Tech Aion haben wir zum Beispiel eine neue 3D-Motion-Bridge konstruiert. Ein System, das in die Mittelsohle integriert ist und den Fuß wie eine Faszie umschließt. Wenn das alles passt, bekommen wir erste Prototypen eines Schuhs, die meistens noch einmal in mehreren Schritten verbessert werden. Der Prozess dauert etwa 18 Monate. Parallel kümmern wir uns um Farbdesigns.

Lass uns über Trends reden: Voluminöse, eher weiche Sohlen mit Rocker-Konstruktion sind gerade mega angesagt. Warum?
Andre Kriwet: Diese Sohlen bringen einfach Spaß beim Laufen. Es fühlt sich leichter an. Ich glaube, dass dieser Trend bleibt. Durch die hohen, weichen Sohlen kann man den Bewegungsablauf verändern. Deswegen müssen wir uns genau anschauen, welche Auswirkungen solche Sohlen auf Verletzungsanfälligkeiten haben. Das tun wir aktuell. Uns geht es vor allem um Verletzungsprävention. Aber das geht unserer Meinung nach auch mit dicken, komfortablen Sohlen, wenn der Bewegungsablauf dabei nicht negativ verändert wird.

Nächster Trend: In Schaumstoffe für die Mittelsohle wird Stickstoff injiziert. Was bringt das?
Andre Kriwet: Das ist eine spannende Technologie, die tatsächlich einige Vorteile bietet. Die Produktion ist nachhaltiger. Es fallen aufgrund der mechanischen Aufschäumung mit Stickstoff chemische Zusätze weg. Es wird zudem in der Produktion weniger Wasser verbraucht. Außerdem hat man durch die Zellstruktur ein leichteres Material, das sehr responsiv reagiert. Durch den eingeschlossenen Stickstoff erreicht man ein extrem federndes Laufgefühl.

Bis ein Schuh in die Produktion gehen kann, dauert es ungefähr 18 Monate.

Andre Kriwet

Wie funktioniert das in der Produktion?
Andre Kriwet: Das Ausgangsmaterial ist wie eine kleine feste Mini-Form, die dann mittels Stickstoff, Hitze und Druck in eine Art riesigen Marshmallow geschäumt wird. Der Stickstoff wird bei diesem Vorgang gebunden, er verändert also seinen Aggregatzustand und ist nicht mehr gasförmig.

Trend Nummer 3: Carbonplatten im Schuh. Weltklasse-Athleten laufen damit extrem schnelle Zeiten. Was bringt es Freizeitläufern?
Andre Kriwet: Ich weiß, dass viele Kollegen es nicht gerne hören. Ich befürchte es bringt vor allem Schmerzen. Das Thema wird extrem gehypt. Der Trend wird bleiben – schon wegen der Zeiten, die damit möglich sind, wenn man diese „Waffen“ auch bedienen kann. Wer in einer 6er-Pace durch den Wald läuft, braucht das aber nicht. Durch die Carbonplatte steigen die Belastungen für Muskeln, Sehnen und Bänder. Die Gefahr, sich zu verletzen, nimmt zu. Das ist ähnlich wie damals beim Barfußlauf-Trend. Plötzlich treten vermehrt Stressfrakturen auf. Die versteifenden Platten in Laufschuhen werden aber bleiben, es gibt ja auch eine spitze Zielgruppe, die davon wirklich profitieren kann. Aber der Hype wird sich wieder beruhigen.

Viele Läuferinnen und Läufer beklagen, dass Schuhe nicht mehr so haltbar sind wie vor zehn oder 20 Jahren. Wird vielleicht zu viel Material eingespart?
Andre Kriwet: Es wird alles teurer. Material, aber auch Lohn- und Transportkosten steigen enorm. Die Branche ist darin geschult, alles als Benefit für den Läufer und die Läuferin darzustellen. Schuhe werden also leichter, schneller, flexibler, wenn weniger Material eingestezt wird. Wenn man sich Schuhe aus den 1990er-Jahren anschaut, bestanden die aus etwa 100 Teilen und alles war zusammengenäht. Die waren quasi unkaputtbar. In den vergangenen Jahren war es so, dass ein Schuh nicht unbedingt zehn Jahre halten sollte. Da brauchen wir ein Umdenken. Schuhe werden sicherlich teurer werden, aber wir brauchen unbedingt Schuhe, die das Geld aufgrund der Qualität, Funktionalität und Haltbarkeit auch wert sind. Das wäre auch in punkto Nachhaltigkeit sehr wichtig.