Top-Marathonläuferinnen im Vergleich

| Text: Jörg Wenig | Fotos: photorun.net

Tirunesh Dibaba, Vivian Cheruiyot und Joyciline Jepkosgei sind die wohl talentiertesten Marathonläuferinnen der Gegenwart. Wir stellen dir die Läuferinnen aus Äthiopien und Kenia vor.

Tirunesh Dibaba (32), Vivian Cheruiyot (34) und Joyciline Jepkosgei (24) sind die wohl talentiertesten Marathonläuferinnen der Gegenwart. Wir stellen dir die Läuferinnen aus Äthiopien und Kenia vor.

Drei Olympiasiege, fünf WM-Titel sowie viermal Gold bei den Crosslauf-Weltmeisterschaften - Tirunesh Dibaba, die seit gut zehn Jahren mit einer Zeit von 14:11,15 Minuten auch den 5.000-Meter-Weltrekord hält, könnte schon jetzt als beste Langstreckenläuferin aller Zeiten gelten. In jedem Fall würde sie diese Position einnehmen, wenn der Äthiopierin auch im Marathon noch entsprechende Erfolge gelingen. Tirunesh Dibaba ist auf dem besten Weg. Aufgrund ihrer enormen Grundschnelligkeit und dem erfolgreichen Wechsel auf die klassische Distanz ist der 32-Jährigen zuzutrauen, in zwei Jahren bei den Olympischen Spielen in Tokio auch die Marathon-Goldmedaille zu gewinnen. Und vielleicht ist sie sogar schon vorher die Läuferin, der es schließlich gelingt, den Weltrekord von Paula Radcliffe zu brechen. Die Britin lief vor 15 Jahren in London 2:15:25 Stunden

Beim Erreichen von Superlativen hat Tirunesh Dibaba schon einige Erfahrung. Bei den Weltmeisterschaften 2003 in Paris wurde sie zur jüngsten Goldmedaillengewinnerin in einer Einzeldisziplin in der Geschichte dieser Titelkämpfe, die 1983 in Helsinki begann. Die äthiopische 5.000-m-Siegerin war damals 18 Jahre und 90 Tage alt. Ein Jahr später sorgte Tirunesh Dibaba wieder für ein Novum: In Athen wurde sie Dritte über 5.000 m und damit zur jüngsten olympischen Medaillengewinnerin ihres Landes aller Zeiten. Ein Stück WM-Geschichte schrieb sie als 20-Jährige bei den Titelkämpfen in Helsinki 2005: Als Erste in der WM-Historie gelang ihr einen Doppelsieg über 5.000 und 10.000 m. Drei Jahre später wiederholte sie dieses Kunststück auch bei den Olympischen Spielen in Peking. Bis heute ist Tirunesh Dibaba die einzige Frau, die bei Olympia beide Bahn-Langstrecken gewann.

Die zierliche, 1,55 m große und rund 45 kg wiegende Tirunesh Dibaba kommt aus einer Läufer-Familie, in der ausschließlich die Frauen für Furore sorgen. Sie ist das vierte von sechs Kindern. Ihre Kusine ist Derartu Tulu. Die 10.000-m-Olympiasiegerin von 1992 und 2000, die später zum Marathon wechselte und die Rennen in London sowie Tokio gewann, war ein Vorbild für sie und ihre drei Jahre ältere Schwester Ejegayehu. Eine andere Kusine, Bekelu Dibaba, die ebenfalls international startete, hatte ebenfalls großen Einfluss auf die Karrieren von Tirunesh und Ejegayehu Dibaba.

Zusammen mit der Schwester erfolgreich

Auf dem Land aufgewachsen, zogen die beiden Schwestern im Alter von 14 und 17 Jahren gemeinsam nach Addis Abeba, um fortan professionell zu trainieren. Tirunesh Dibaba sollte zunächst eigentlich die Oberschule besuchen, verpasste aber die Anmeldefrist und schloss sich dann einem Polizeisportverein an. So konzentrierte sie sich fortan auf das Laufen und hatte schnell Erfolg.

Ejegayehu Dibaba war 2004 Olympia-Zweite über 10.000 m und gewann 2005 beim WM-Doppeltriumph von Tirunesh jeweils Bronzemedaillen in diesen Rennen. In jüngster Zeit sorgte die jüngste Dibaba-Schwester Genzebe für Schlagzeilen. Sie ist die aktuelle 1.500-m-Weltrekordlerin und sammelte neben einem WM-Titel über diese Strecke bereits fünf Hallen-WM-Titel.

Während Genzebe Dibaba auf der 400-m-Bahn Erfolge jagt, konzentrierte sich Tirunesh Dibaba nach ihrem 10.000-m-Olympiasieg 2012 in London mehr und mehr auf die Straße. Verletzungsbedingt musste sie ihr Marathon-Debüt 2013 verschieben. Ein Jahr später lief sie dann in London auf Anhieb hochklassige 2:20:35 Stunden.

Nach einer Babypause meldete sich Tirunesh Dibaba, die mit dem äthiopischen 10.000-m-Olympia-Zweiten von 2008 Sileshi Sihine verheiratet ist, 2016 zurück und holte bei Olympia in Rio Bronze über 10.000 m. Trotz eines viel zu schnellen Anfangstempos erreichte sie dann beim London-Marathon 2017 als Zweite noch die absolute Weltklassezeit von 2:17:56 Stunden. Damit ist Tirunesh Dibaba, die im Herbst 2017 den Chicago-Marathon in 2:18:31 gewann, die drittschnellste Läuferin aller Zeiten. In diesem Frühjahr lief sie in London erneut ein zu schnelles Anfangstempo und kam dann bei hohen Temperaturen nicht ins Ziel. Doch wenn sie im Herbst auf einer schnellen Marathonstrecke und mit guten Tempomachern laufen sollte, ist Tirunesh Dibaba zumindest der Afrika-Rekord (2:17:01 Stunden) zuzutrauen - vielleicht sogar mehr.

„Mein Ziel ist es, Äthiopiens erfolgreichste Olympionikin zu werden. Erst möchte ich alles auf der Bahn gewinnen, was möglich ist. Danach kommt der Marathon“, hatte Tirunesh Dibaba vor ein paar Jahren gesagt - sie ist auf einem guten Weg.

Nach einer glänzenden Langstrecken-Karriere auf der Bahn vollzog Vivian Cheruiyot den Schritt zum Straßenlauf nachdem sie 2016 bei den Olympischen Spielen in Rio über 5.000 m die Goldmedaille gewonnen hatte. Seitdem konzentriert sich die inzwischen 34-jährige Kenianerin auf die Marathondistanz. In London gelang ihr in diesem Frühjahr der Durchbruch. Vivian Cheruiyot gewann das bestbesetzte Rennen des Jahres mit der Jahresweltbestzeit von 2:18:31 Stunden und wurde damit zur viertschnellsten Läuferin aller Zeiten über die 42,195 km.

Schneller als Vivian Cheruiyot waren nur die britische Weltrekordlerin Paula Radcliffe (2:15:25 im Jahr 2003) sowie Mary Keitany (Kenia/2:17:01) und Tirunesh Dibaba (Äthiopien/2:17:56). Keitany und Dibaba ließ Cheruiyot in London hinter sich. Nach ihrem hervorragenden London-Rennen bei sehr warmem Wetter wurde spekuliert, ob die Kenianerin in der Zukunft bei guten Bedingungen sogar den Weltrekord von Paula Radcliffe angreifen könnte. Doch danach gefragt, antwortete Vivian Cheruiyot ausweichend: „Für mich“, erklärte die Läuferin, „waren die Bedingungen in London gut, denn ich mag kein kühles Wetter.“

Das ideale Rennen fehlt noch

Verbesserungspotenzial hat Vivian Cheruiyot sicherlich noch, denn bisher hatte sie noch nie ein ideales Marathon-Rennen. Bei ihrem Debüt in London vor einem Jahr lief sie die erste Hälfte wesentlich zu schnell und brach dann ein. Ihr zweites Rennen in Frankfurt gewann sie zwar, konnte am Main aber aufgrund windiger Bedingungen nicht ihr volles Potenzial zeigen. Bei ihrem London-Marathon-Sieg im April dürften die hohen Temperaturen sicherlich Zeit gekostet haben. Auf einer schnellen Strecke mit Tempomachern und sehr guten Bedingungen könnte Vivian Cheruiyot sicherlich noch schneller laufen und vielleicht sogar in die Nähe von Paula Radcliffes Weltrekord kommen. Wo sie im Herbst Marathon laufen wird, steht noch nicht fest.

Das Talent von Vivian Cheruiyot war so außergewöhnlich, dass sie bereits als 15-Jährige zum kenianischen Junioren-Nationalteam gehörte. Mit 16 wurde sie im Jahr 2000 Crosslauf-Juniorenweltmeisterin (Altersklasse bis 19 Jahre!), und wenige Tage nach ihrem 17. Geburtstag startete sie 2000 erstmals bei Olympischen Spielen, erreichte das Finale und belegte Platz 14 über 5.000 m. Nach einer Reihe von Medaillen gewann sie in Berlin 2009 ihren ersten WM-Titel über 5.000 m.

Bei der WM im südkoreanischen Daegu triumphierte die Kenianerin zwei Jahre später sowohl über die 5.000 als auch die 10.000 m. Ebenfalls 2011 hatte sie zuvor auch den Cross-WM-Titel gewonnen. Ihre Leistungen über die Bahn-Langstrecken waren so außerordentlich, dass sie zur Weltsportlerin des Jahres 2011 gewählt wurde (Laureus Award). Vivian Cheruiyot lebt mit ihrem Mann und Trainer Allan Kiplagat sowie ihrem fünfjährigen Sohn im kenianischen Hochland in Kaptagat.

Ist sie Kenias zukünftiger Marathon-Star? Joyciline Jepkosgei ist bisher noch keinen Marathon gelaufen. Doch die Kenianerin zeigte derart außergewöhnliche Leistungen auf den Distanzen zwischen 10 km bis zum Halbmarathon, dass man ihr zutrauen kann, zukünftig auch im Marathon für Furore zu sorgen. Bei den Olympischen Spielen in Tokio 2020 will Joyciline Jepkosgei über die 42,195 km starten. Insofern müsste sie wohl spätestens im nächsten Jahr ihr Marathon-Debüt laufen.

Nachdem die 24-Jährige 2016 erstmals in Europa an den Start gegangen war, sorgte sie im vergangenen Jahr für eine Kette von sensationellen Ergebnissen. Im April 2017 lief Joyciline Jepkosgei als erste Frau den Halbmarathon in unter 65 Minuten. In Prag stellte sie mit 64:52 Minuten nicht nur einen Weltrekord über diese Distanz auf sondern verbesserte dabei auch gleich die Bestzeiten über 10 km (30:04), 15 km (45:37) und 20 km (61:25). Mit Sicherheit ist sie bei diesem Rennen auch über 10 Meilen schneller gewesen als alle anderen zuvor - doch dieser Punkt wurde in Prag nicht markiert und gestoppt. Nach Schätzungen dürfte sie die 10 Meilen (gut 16 km) damals in knapp 49:05 Minuten gelaufen sein. Bisher ist keine Frau über die eher seltene Strecke schneller gerannt.

Im September 2017 kehrte Joyciline Jepkosgei nach Prag zurück und verbesserte in einem 10-km-Rennen ihren eigenen Weltrekord auf 29:43 Minuten - damit war sie die erste Läuferin, die in einem Straßenrennen über diese Distanz eine Zeit unter 30 Minuten erreichte. Ihre 5-km-Durchgangszeit von 14:33 war ebenso sensationell, denn keine Frau war über diese Strecke auf der Straße jemals schneller. Im November schaffte Joyciline Jepkosgei dann in Valencia das Kunststück, ihren Halbmarathon-Weltrekord um genau eine Sekunde zu unterbieten (64:51).

Von einer Malaria-Erkrankung zurückgeworfen

Nach dem Durchbrechen diverser Zeitbarrieren im vergangenen Jahr, kam Joyciline Jepkosgei 2018 bisher noch nicht wieder an ihre besten Zeiten heran. Dies lag auch daran, dass sie nach einer Malaria-Erkrankung im Spätherbst 2017 noch nicht wieder topfit war.

Im Gegensatz zu den meisten kenianischen Weltklasseathleten kam Joyciline Jepkosgei erst spät zum Laufsport. Mit knapp 20 Jahren, nach der Geburt ihres Sohnes Brendan, begann sie mit dem Ausdauertraining. Ihr Ehemann Nicholas Koech, der eine 800-m-Bestzeit von 1:46 Minuten aufweist (für kenianische Verhältnisse ist das keine Topzeit), war ihr Vorbild. „Er inspirierte mich. Ich hatte früher auf der Schule seine Rennen gesehen“, erzählte Joyciline Jepkosgei in einem Interview in Prag. Mit ausschlaggebend für ihren Lauf-Start war allerdings, wie die Weltrekordlerin bestätigte, auch eine Gewichtszunahme in der Schwangerschaft. Längst haben sich die Verhältnisse beziehungsweise Gewichte in der Familie verschoben. Heute kann ihr Mann nicht mehr Schritt halten mit Joyciline Jepkosgei. „Ich nehme jetzt das Auto, um sie beim Training begleiten zu können“, sagte Nicholas Koech.

Dass Joyciline Jepkosgei quasi als Nobody 2016 die Chance bekam, bei europäischen Rennen zu starten, verdankt sie ihrem Manager Davor Savija. „Auch für kenianische Verhältnisse ist es sehr ungewöhnlich, dass ein Athlet quasi aus dem Nichts auftaucht“, erzählte der Südafrikaner, der in Prag lebt. „Einer meiner Mitarbeiter sah Joyciline bei einem 10-km-Rennen in Nairobi, wo sie unter den ersten zehn Läuferinnen ins Ziel kam. Was ihm auffiel, war die Art und Weise wie sie lief und ihre Persönlichkeit. Joyciline hatte im Rennen keine Angst, lief aggressiv und war als Person demütig und alles andere als arrogant. Sie war eine Athletin, die uns interessierte.“

Nicht alle Athleten, die über die Halbmarathondistanz oder auf kürzeren Strecken hervorragende Leistungen zeigen, schaffen den Sprung zum Marathon. Ein gutes Beispiel dafür ist der Halbmarathon-Weltrekordler bei den Männern: Zersenay Tadese ist es nie gelungen, sein Potenzial auf die 42,195 km zu übertragen. In einem regelkonformen Rennen ist der Läufer aus Eritrea bisher noch nicht unter 2:10 Stunden gelaufen. Es bleibt abzuwarten, was Joyciline Jepkosgei erreichen kann. Die Voraussetzungen sind aber sehr viel versprechend.