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Low Carb, Glutenfrei & Co.
Warum Ernährungstrends und Sport nicht zusammenpassen

| Text: Dr. Stefan Graf | Fotos: iStockphoto, Adobe Stock

Viele Ernährungstrends wurden als Therapie gegen Krankheiten, Allergien und Unverträglichkeiten entwickelt. Auch in der Laufszene sind sie beliebt. Aber sind sie auch sinnvoll? Oder sogar schädlich?

91 Prozent der Deutschen ist gesunde Ernährung wichtig, so das Ergebnis der Umfrage, die im Ernährungsreport 2021 des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft veröffentlicht wurde. Ähnlich positiv sehen die Selbstauskünfte zum Gemüse- und Obstkonsum sowie maßvollen Verzehr von Fleisch- und Süßwaren aus.

In der Realität aber nimmt Deutschland einen Spitzenplatz im Ranking ernährungsbedingter Adipositas, Herzkreislauf- und Krebserkrankungen ein. Dass die wie Pilze aus dem Boden schießenden Ernährungshypes die Lage eher verschlimmern, wird immer deutlicher. Im Sport drohen leistungsmindernde Versorgungslücken.

Die meisten Ernährungstrends wurden als Therapiebausteine gegen übergewichtsbedingte Krankheiten sowie Allergien und Unverträglichkeiten entwickelt. Zur deutlichen Reduktion von Körpergewicht und entzündungsförderndem Eingeweidefett haben sich einige restriktive Ernährungsweisen in Patientenstudien als zielführend erwiesen. Aber lässt sich daraus auch automatisch auf einen Nutzen für gesunde, sportlich aktive Menschen schließen? Was bringen Low Carb, ketogene Ernährung, laktose-/glutenfreie Kost oder das gerade so populäre Intervallfasten für das „Wettkampfgewicht“ und die Leistungsentwicklung?

„Zu wenig Vollkorn“ lautet eine Kernerkenntnis des Ernährungsreports. Der damit verbundene Mangel an Ballaststoffen – unverdaulichen Kohlenhydraten – ist großteils der Low-Carb-Kampagne geschuldet. Es ist unzweifelhaft auch im Laufsport sinnvoll, den Konsum von kurzkettigen Zuckern zu beschränken, die den Insulin- und Blutzuckerspiegel auf Berg- und Talfahrt schicken. Im Low-Carb-Wahn wurde das allerdings auf Kohlenhydrate jeglicher Art ausgeweitet. Auch die Vollkornvarianten von Brot, Reis, Nudeln sowie Kartoffeln – allesamt wertvollste Lieferanten komplexer Kohlenhydrate und Mikronährstoffe – sind in den Restriktionsstrudel geraten.

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Durch Kohlenhydratmangel gerät die Fettverbrennung ins Stocken. Die Ausdauerleistung sinkt. Intensitätssteigerungen werden unmöglich.

Kohlenhydratenergie ist unerlässlich

Was ohnehin kritisch zu bewerten ist, wird bei Ausdauerbelastungen zur Leistungsbremse. Jede Intensitätssteigerung, aber auch die effektive Fettverbrennung ist von schnell verfügbarer Kohlenhydratenergie abhängig. Um die Produkte aus der Fettverdauung den energieliefernden Prozessen in den Mitochondrien („Zellkraftwerke“) zuzuführen, muss zunächst eine Energiehürde überwunden werden, die aus dem Kohlenhydratabbau geliefert wird. Daher ist Ausdauersportlern und -sportlerinnen, davon abzuraten, dauerhaft komplexe Kohlenhydrate zu reduzieren.

Davon zu unterscheiden ist die mitunter im Vorfeld von Wettkämpfen prakti­zierte „Saltin-Methode“ der Superkompensation. Bei diesem nach Bengt Saltin benannten Prinzip werden die muskulären Glykogenspeicher durch die Kombination von Training mit einer kurzen Low-Carb-Phase entleert, um sie anschließend durch kohlenhydratreiche Kost unter Erhöhung der Gesamtspeicherkapazität zu befüllen. Selbst dieser kurzzeitige Kohlenhydratverzicht in Verbindung mit Ausdauertraining wird in Fachkreisen wegen der abrupten Stoffwechselumstellung sowie oft psychischer Missempfindungen kritisch gesehen.

Dauerhafte Kohlenhydrat-Restriktion bei hoher körperlicher Belastung ist gefährlich

Gewarnt werden muss vor der längerfristigen Kombination aus körperlicher Belastung und extremer Kohlenhydratrestriktion. Die als „Ersatz“ gebildeten Ketone haben biochemische Eigenschaften, die bei hohem Energiebedarf zum ernsten Gesundheitsrisiko werden.

Wird der Kohlenhydratanteil auf unter 15 Prozent des Gesamtenergiebedarfs gesenkt, schaltet der Stoffwechsel auf ketogene Energiebereitstellung („Ketose“) um. Der veränderte Fettabbau bringt Ketonkörper hervor, die anstelle der Kohlenhydrate die lebenswichtige Versorgung des Gehirns und schnelle Energiebelieferung der Muskeln übernehmen.

Bei niedriger Belastung ist das durchaus möglich. Werden die Anforderungen intensiver oder länger, entwickelt sich die steigende Ketonkonzentration im Blut zur Gefahr. Ketone weisen einen sauren Charakter auf, der den hoch sensiblen pH-Wert (Maß der Säurestärke) des Blutes absinken lässt. Der gesunde Blut-pH liegt bei 7,40 mit einer Toleranz von nur 0,05. Dieses enge Fenster ist von großer Bedeutung für intakte Stoffwechselabläufe. Wichtige Enzyme haben hier ihre pH-Optima.

Körpereigene Puffersysteme fangen pH-Abweichungen in beide Richtungen ab. Doch die Pufferkapazität hat Grenzen, die durch die Kombination aus ketogener Ernährung und Sport überschritten werden können. Die Ketose (Energieversorgung via Ketone) geht dann in eine lebensbedrohliche Ketoazidose über – einen durch Ketone ausgelösten Abfall des Blut-pH. Auch wenn es einige laufende Ketogen-Fans gibt, sollte das gesundheitliche Risiko mit dem Nutzen für die Laufleistung abgeglichen werden, der nur auf Einzelerfahrungen beruht und nicht verallgemeinerbar ist.

Keine sportlichen Vorteile durch Low Carb

Eine richtungweisende, am Universitätsklinikum Ulm durchgeführte Studienanalyse hat gezeigt, dass auf Dauer angelegte „Low Carb“-Ernährung keine Vorteile für die sportliche Leistung bringt. Zwar kann der Fettstoffwechsel durch Kohlenhydratreduktion etwas forciert werden. Jedoch gehen mit betonter Low-Carb- bzw. ketogener Ernährung eine erhöhte Infekt- und Verletzungsanfälligkeit, Stress und Übertraining einher, die eine solche Restriktion nicht rechtfertigen.

Die „Arbeitsgruppe Sport­ernährung der Deutschen Gesellschaft für Ernährung“ ist 2020 mit dem Positionspapier „Kohlenhydrate in der Sporternährung“ dem Low-Carb-Trend entgegengetreten und empfiehlt Ausdauersportlern und -sportlerinnen eine variable Kohlenhydrataufnahme, die sich an Intensität, Umfang, Zielen und Zyklen des Trainings orientiert.

Dass Ballaststoffe (unverdauliche Kohlenhydrate) zu gesunder Ernährung gehören, ist unstrittig. Dabei geht es nicht nur um rege Darmtätigkeit, sondern auch um die Bildung kurzkettiger Fettsäuren wie Propionsäure. Sie werden von Bakterien des Darmmikrobioms aus Ballaststoffen produziert. Über direkte Interaktion mit dem Immunsystem entfalten sie eine entzündungshemmende Wirkung, die Gelenke, Herz und Blutgefäße schützt.

Nun weiß jeder, dass „windige“ Darmperistaltik die Laufleistung nicht eben steigert. Zu Recht wird vom Ballaststoffverzehr im direkten zeitlichen Umfeld zum Sport abgeraten. Nur leider macht die Low-Carb-Welle, die mit den Vollkornprodukten wertvolle Ballaststoffe auf den Index setzt, auch Läufer zu Ballaststoffmangelkandidaten. Zudem ist es en vogue, Gemüse und Obst (falls wegen des Zuckers überhaupt verzehrt) nicht mehr in ihrem Originalzustand zu genießen, sondern als ballaststoffverarmte und durch Wegfall der Kauarbeit wenig zahnfreundliche Smoothies.

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TIPP! Kalorien sparen, ohne auf komplexe Kohlenhydrate zu verzichten

Stärkehaltige Lebensmittel wie Kartoffeln, Nudeln, Reis und Hülsenfrüchte vor dem Verzehr abkühlen lassen – z. B. über Nacht im Kühlschrank. Ein Großteil der beim Kochen verdaubar gemachten Stärke wird so in „resistente Stärke“ überführt, die beim Wiederaufwärmen unverdaulich bleibt.

Keine Argumente für Verzicht auf Milchprodukte

Milcheiweiß-Allergiker und -Allergikerinnen (in Deutschland weniger als 1 Prozent der Bevölkerung) müssen tatsächlich Milchprodukte meiden. Aber Laktoseintoleranz ist keine Allergie, sondern Folge einer Unterfunktion des Enzyms Laktase, das Milchzucker spaltet. So können im Dünndarm nur kleinere Laktosemengen für den Transport in die Blutbahn zerlegt werden. Überschüsse werden von Dickdarmbakterien zu Spaltprodukten vergoren, die blähen und mitunter Durchfall verursachen. Obwohl hierzulande nur etwa 15 Prozent der Erwachsenen laktoseintolerant sind, üben sich weit mehr Menschen im Verzicht auf jegliche Milchprodukte.

Aus ernährungsphysiologischer Sicht gibt es keine belastbaren Argumente für einen Totalverzicht – nicht einmal für Laktoseintolerante. Milchprodukte wie feste Schnitt- oder Sauermilchkäse sind nahezu laktosefrei. Die zur Reifung eingesetzten Bakterien bauen den Milchzucker ab. Somit sind diese Produkte sogar für laktoseintolerante Athleten und Athletinnen hervorragende Kalziumlieferanten. Überdies haben sie mit Molkeneiweiß und Casein zwei der am besten für die muskuläre Regeneration verwertbaren Proteinarten im Gepäck. Ein guter Kalziumstatus ist essenziell für Knochenstabilität und Herzleistung.

Warum nur ist das zu über 90 Prozent aus Eiweißen bestehende Gluten (lat. „Leim“) so in die Schusslinie geraten? Ebenso unverständlich ist die „In-Sippenhaftnahme“ des Weizens. Zu den über Gluten kursierenden Halbwahrheiten gehört die Bezeichnung „Weizenkleber“. Denn Gluten, das beim Kontakt mit Wasser – etwa beim Kauen – eine gummiartige Konsistenz annimmt, ist genauso in Roggen, Gerste, Hafer, Triticale, Emmer, Einkorn, Kamut, Grünkern und besonders viel in Dinkel enthalten. Dort ist es nicht besser oder schlechter als im Weizen.

Gluten ist nicht „böse“

Einzig von der Autoimmunkrankheit Zöliakie Betroffene müssen Gluten meiden. Darüber hinaus gibt es Personen, die möglicherweise an „Glutensensitivität“ leiden. Doch ist fraglich, ob wirklich Gluten der Verursacher ist. Aktuell stehen eher „FODMAPs“ (fermentierbare Zucker und Alkohole) im Verdacht. Tatsächlich sind von Zöliaki und Glutensensitivität zusammen nur etwa 1 Prozent unserer Bevölkerung betroffen.

Für die große Mehrheit ist Gluten überhaupt kein „böser“ Nahrungsbestandteil und Vollkorn-Weizen nicht schlechter als andere Getreidesorten. Mittlerweile zeigen reproduzierbare Langzeitstudien, dass unbegründeter Glutenverzicht durch den Getreide-Ausschluss die Entwicklung leistungsmindernder Nährstoffdefizite (komplexe Kohlenhydrate, Ballast- und Mineralstoffe, B-Vitamine) befördert.

Ob nach dem 5:2- (fünf Tage normal, zwei Tage fasten) oder 16:8-Prinzip, bei dem täglich für 16 Stunden auf Nahrung verzichtet wird – das Intervallfasten wurde als Strategie gegen Adipositas entwickelt. Durch die langen Nüchternphasen sollen Insulinausschüttungen verringert werden, die die Fettdeponierung begünstigen. Klinische Studien zeigen nun, dass Intervallfasten beim Abnehmen helfen kann, aber nicht besser als andere Reduktionsdiäten. Die Abnehmerfolge beruhen auch beim Intervallfasten auf einer negativen Energiebilanz. Ohne Kalorienreduktion bringt Intervallfasten nichts. Die zeitliche Mahlzeitenstruktur ist unerheblich.

Muskelabbau durch Intervallfasten

Noch ernüchternder ist der Blick auf die Veränderung der Körperzusammensetzung. Was zuvor bereits Nagetierstudien aus Sao Paolo und Sydney gezeigt hatten, bestätigte sich auch in einer an der Universität Bath (Großbritannien) durchgeführte Humanstudie: Herkömmliche Reduktionsdiäten rücken dem Eingeweidefett zu Leibe, das Krankheiten verursacht.

Die Gewichtsreduktion beim Intervallfasten beruht hingegen vor allem auf dem Abbau von Muskeleiweiß. Offensichtlich schaltet der Organismus während der Fastenphase rasch auf den „steinzeitlichen“ Sparmodus um, der den Fettaufbau als Energiereserve forciert. Abgesehen vom drohenden Muskelabbau gibt es gerade im leistungsorientierten Sport Praktikabilitätsprobleme. Bei der 5:2-Aufteilung fallen die „Nulldiät“-Tage für Intensiveinheiten flach. Aber auch ein täglich 16-stündiges Fasten ist schwer mit leistungsgerechter Nährstoffversorgung zu vereinen.

Am Anfang der gewöhnlich spät nachmittags beginnenden Fastenphase mit vollem Bauch zu trainieren, ist keine Option. Abends intensiv zu trainieren „verbieten“ die Schlafforscher und nach stundenlangem Fasten mit entleerten Glykogendepots lässt sich allenfalls mit sehr niedriger Belastung (und schlechter Laune) trainieren. Während der 8-stündigen Essensphase gehen die meisten einem Beruf nach. Praktikabilität geht anders.

Kein Grund für Restriktionen für Gesunde

Für gesunde Sport-Treibende gibt es keine Veranlassung für restriktive Ansätze. Derartige Ernährungsweisen wurden zur Therapie adipositasbedingter Krankheiten, Nahrungsintoleranzen und -allergien konzipiert. Den besonderen Anforderungen gesunder Ausdauersportler und -sportlerinnen werden sie nicht gerecht und begünstigen leistungsmindernde Versorgungslücken.

Natürlich gibt es mit dem Verzicht auf nahezu jedes Lebensmittel individuelle Positiverfahrungen, aus denen sich aber keine Allgemeinempfehlungen ableiten lassen. (Sport-)Ernährung ist eine hoch individuelle Angelegenheit, die auf einem Grundgerüst aufbaut, das nicht gestürzt werden sollte. Genau das geschieht aber durch viele der kursierenden Hypes. Der Rat: Entspannt bleiben, für sich das Beste herausfinden und stets daran denken: Ernährungsqualität hat nichts mit Qual zu tun.