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Nach Unterschenkelamputation
Wie Kim Cremer über eine Prothese den Weg zum Laufen fand

| Text: Anja Herrlitz | Fotos: Brooks, DTU/Oliver Kraus

Bei einem Unfall wird Kim Cremers Fuß schwer verletzt. Vier Jahre später entscheidet er sich für eine Amputation. Und findet nicht nur den Weg zurück in ein lebenswertes Leben, sondern auch zum Sport.

Es ist der 16. April 2013, der das Leben von Kim Cremer komplett auf den Kopf stellt. Als er mit seinem Motorrad unterwegs ist, nimmt ihm ein Auto die Vorfahrt, erfasst ihn und schiebt ihn in einen Traktor. Zwischen Metallstoßstange des Autos und Motor des Motorrads eingeklemmt: Kim Cremers Fuß.

Was folgt sind monatelange Krankenhausaufenthalte und mehr als 20 Operationen, in denen die Ärztinnen und Ärzte versuchen, den Fuß zu erhalten. Was auf den ersten Blick zwar funktioniert, denn der Fuß ist dran. „Aber für mich war es kein Fuß mehr. Es war ein Versuchsobjekt“, erzählt der heute 36-Jährige. Durch zahlreiche Operationen und Hauttransplantationen ist der Fuß stark aufgequollen, unbeweglich und nicht belastbar.

Mit den Kindern spielen, daheim helfen, ein Ausflug – alles unmöglich

Danach: eineinhalb Jahre voller Schmerzen, Physiotherapie und Gehversuche. Nachträglich wird der Fuß versteift. Alle Bemühungen sind vergeblich. Weil er seinem Beruf als Produktions- und Lagermitarbeiter nicht mehr nachgehen kann, macht Kim Cremer eine Umschulung zum Bürokaufmann. Aber selbst im Sitzen hat er Schmerzen. Um die Schmerzen zu lindern, nimmt er Unmengen von Schmerzmitteln. Daheim im Haushalt helfen? Unmöglich. Mit seinen drei Kindern spielen und toben? Unmöglich. Ein Zoobesuch? Unmöglich. „Ich konnte nur noch dasitzen und Tabletten fressen. Und dann stand ich komplett neben mir und war wie in Watte gepackt“, erzählt Kim Cremer.

Kim Cremer leidet. Seine Familie leidet. Alle geben ihr Bestes, aber ihm ist irgendwann alles zu viel. Lebensqualität ist nicht mehr vorhanden. Und für ihn gibt es nur noch zwei Möglichkeiten: Amputation oder Suizid. Mit diesen Gedanken geht er zu den Ärztinnen und Ärzten, die immer noch nach Wegen suchen wollen, etwas zu verbessern. Aber Kim Cremer will nicht mehr. Es folgen ein Gespräch mit einem Psychologen und eine Schmerztherapie in der Berufsgenossenschaftlichen Klinik in Duisburg, bei der er noch einmal komplett auf den Kopf gestellt wird.

Kim Cremers einziger Wunsch: den Fuß und die Schmerzen loswerden

Nach der Hälfte der Schmerztherapiezeit sagen sie dort: Sie können seinen Wunsch nach einer Amputation nachvollziehen und unterstützen ihn auch. Seine Familie reagiert ganz unterschiedlich. Sein Vater sagt, er unterstütze ihn, egal was komme. Seine Frau, die ihn in den beiden vergangen Jahren hautnah erlebt hat, ist bereit, mit ihm zusammen nach jedem Strohhalm zu greifen, der sich ihnen bietet. Hauptsache es besteht die Chance, dass es ihm besser geht. „Aber meine Mutter war wirklich völlig fertig und konnte es nicht verstehen.“

Das ändert sich erst, als Kim Cremer ihr jemanden vorstellt, der auch mit einer Prothese lebt. Und auch seiner Frau und seinen drei Kindern hilft das Zusammentreffen mit der Familie eines anderen Beinamputierten. Überhaupt versuchen Kim Cremer und seine Frau, ihre Kinder so gut es geht vorzubereiten. Und er selbst? „Ich wollte einfach nur den Fuß und damit die Schmerzen loswerden“, sagt er. „Auch wenn ich nicht prothesenfähig gewesen wäre, im Rollstuhl gesessen hätte oder mein ganzes Leben auf Krücken gelaufen wäre – ohne Schmerzen wäre auch das ein Gewinn gewesen.“

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Start in ein neues Leben – ohne Fuß

Und dann am 27. Juli 2017 ist es so weit. Kim Cremer wird sein linker Unterschenkel amputiert. „Ich hatte ganz schnell nach der OP schon weniger Schmerzen als zuvor mit dem Fuß“, blickt er zurück. „Und nach vier Tagen wollten sie mich das erste Mal rausschmeißen, weil es mir zu gut ging“, fügt er lachend hinzu. Für ihn ist es der Start in ein neues Leben. Sich zurückhalten? Ist eher nicht sein Ding. Kim Cremer geht Dinge gerne an und so tut er es auch in diesem Moment. „Rollstuhl kam für mich nicht in Frage, deswegen war ich auf Krücken unterwegs. Ich habe dann angefangen, einfach alles wieder zu machen. Ich habe auch auf einem Bein renoviert“, blickt er lachend zurück. Seine Familie und Freunde hätten wohl so einige Krisen zu dieser Zeit erlebt.

Aber Kim Cremer ist glücklich. Er ist die Tabletten los. Der Kopf ist wieder frei. Die Schmerzen der Wunde lassen schnell nach und Phantomschmerzen hat er zum Glück auch keine. Und im Oktober dann der nächste Meilenstein: seine erste Prothese. Der Weg dahin ist mit viel Arbeit verbunden, denn eine nach allgemeinen Vorgaben angefertigte Prothese muss individuell optimiert werden. Und dann muss Kim Cremer damit erst einmal wieder lernen zu gehen. Denn die Rückmeldung, die man normalerweise von einem Fuß bekommt – etwa ob ein Fuß geradesteht oder nicht – fehlt. Und er muss auch lernen einzuschätzen, ob der Druck, den er auf dem Stumpf empfindet, okay ist oder zu viel.

Erste Schritte mit einer Sportprothese

Irgendwann wird ihm angeboten, mal eine Sportprothese auszuprobieren. Mit einer Alltagsprothese kann man mal zwei, drei schnelle Schritte machen – das war es. Eine Sportprothese ermöglicht da ganz andere Dinge. Und Kim Cremer geht auch dieses Thema an wie so viele andere: einfach mal machen. Er schnallt sich die Testprothese unter. „Und dann bin ich ums Haus gewackelt und habe das Grinsen nicht mehr aus dem Gesicht bekommen“, beschreibt er das erste Gefühl. Die Ansage, er solle mit der Testprothese vorsichtig sein, schlägt er in den Wind und gibt mal ein paar Meter Gas. Danach ist für ihn klar: Er braucht so ein Teil. Und: Seine Fitness ist katastrophal.

Sport war vor seinem Unfall nicht sein Ding. „Ein bisschen Pumpen im Fitnessstudio und etwas Thekenathletik“, fasst er seine Aktivitäten schmunzelnd zusammen. Seine damaligen rund 80 Kilo steigern sich nach seinem Unfall auf zeitweise über 100. Jetzt ist ihm klar: Er muss etwas für sich und seinen Körper tun. Ein Bekannter hat es auf den Punkt gebracht: „Der limitierende Faktor ist dein Körper und nicht die Prothese.“ Und so fängt Kim Cremer erstmals an zu laufen. Fünf Kilometer. Am Anfang braucht er dafür 45 bis 50 Minuten.

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Deutscher Meister beim ersten Halbmarathon-Start

Nachdem er darauf hingewiesen wird, dass seine Prothese nicht richtig eingestellt ist, findet er nach Recherchen das Unternehmen APT Prothesen, dort wird seine Prothese optimiert. Außerdem fängt er auch an, in Leverkusen beim TSV Bayer 04 bei Sarah Grädtke in einer Para-Breitensportgruppe zu trainieren. Bis die Corona-Pandemie beginnt und er wieder daheim in Mettmann auf seine 5-Kilometer-Runde zurückkehrt. Aus anfangs 45 bis 50 Minuten, die er dafür benötigt, werden 40, 30 und irgendwann 25. „Es hat mir so Spaß gemacht und ich bin immer gut gelaunt zurückgekommen“, beschreibt Kim Cremer den Beginn seiner Laufleidenschaft.

Er nimmt zuerst an einigen virtuellen Läufen teil – und dann 2021 sogar am Berliner Halbmarathon. „Und das war einfach nur brutal cool“, lautet seine Zusammenfassung. Seinen Plan, alle sieben Kilometer anzuhalten, um die Prothese zu lüften und den Stumpf von Schweiß zu befreien, wirft er schnell über Bord. Er ist im Flow und total euphorisch. Er findet seine Pace und läuft wie ein Uhrwerk. Nach 1:46:27 Stunden überquert er die Ziellinie und wird Deutscher Meister im Parasport seiner Klasse. Aber nicht nur das begeistert ihn – es sind auch der Zuspruch und die Anerkennung, die er bekommt.

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Training für internationale Starts im Triathlon

Mittlerweile ist Kim Cremer beim Para-Triathlon gelandet. Neben Laufen stehen jetzt also noch Schwimmen und Radfahren auf dem Plan. Aus dem einstigen Sportmuffel ist ein begeisterter Athlet geworden, der jeden Tag trainiert und mittlerweile sogar auf internationale Starts hofft. Im vergangenen Jahr ist er bereits Deutscher Meister seiner Klasse im Super-Sprint geworden, dieses Jahr kam ein weiterer deutscher Meistertitel über die Sprintdistanz hinzu. Und auch sonst hat sich einiges geändert. Mittlerweile lässt er von APT Prothesen nicht nur seine Prothesen bauen, sondern ist dort auch angestellt. Er organisiert Events für Prothesenanwender, kümmert sich um Social Media und die Homepage.

Und seit diesem Jahr ist er Teil des Brooks Run Happy Teams – einer Gruppe Laufbegeisterter, die bei Veranstaltungen vor Ort oder auch online über Soziale Medien ihre Begeisterung fürs Laufen und die Bewegung mit anderen teilen. „Es ist so schön, andere Laufverrückte zu treffen, auch wenn jeder ganz andere Interessen und Schwerpunkte hat. Ich finde auch cool, dass alles nicht so verbissen ist, sondern es um Spaß geht. Alles ist offen dort, wir können auch Feedback zu der Kleidung und den Schuhen geben und wir werden gehört“, ist Kim Cremer begeistert.

Sport heute wichtiger Teil des Lebens

Heute hat Kim Cremer vor allem vor einem Angst: „Irgendwann mal keinen Sport mehr machen zu können.“ Sport hilft ihm, den Kopf freizubekommen. Und auch im Alltag fühlt er sich durch sein Training fitter und besser. Von den zwischenzeitlich 105 Kilo Körpergewicht sind 75 geblieben – bei 1,86 Metern Körpergröße. „Weniger soll es jetzt aber nicht mehr werden“, fügt der dreifache Familienvater hinzu.

Die Amputation bereut hat er zu keinem Zeitpunkt. Aber er hat auch nicht das Gefühl, dass es besser gewesen wäre, sie früher durchzuführen. „Ich denke ich brauchte das Gefühl, alle Möglichkeiten ausgeschöpft zu haben.“ Und Kim Cremer ist ein Mensch, der in allem auch immer etwas Positives sieht: „Ich habe in dieser Zeit gemerkt, dass meine Familie durch nichts zu ersetzen ist. Sie haben mich immer unterstützt.“ Umso schöner, dass sie heute wieder voller Energie zusammen durchs Leben gehen.