Die Freiheit gefunden
Nach zwei Nierentransplantationen: Wie Laufen wieder Vertrauen in den eigenen Körper schafft

| Text: Anja Herrlitz | Fotos: privat

Wegen Niereninsuffizienz wird Stefanie Vogel zweimal ein fremdes Organ implantiert. Genauso groß wie ihre körperlichen sind die seelischen Wunden. Wie ihr das das Laufen bei der Heilung geholfen hat.

Dass Stefanie Vogel ein Problem hatte, fand sie durch Zufall heraus, als sie 19 war. Weil sie keine Lust hatte, zur Schule zu gehen, und blau machen wollte, schickte ihre Mutter sie zum Arzt. Und der untersuchte – sie war ja schon mal da – Blut und Urin. Und nachdem im Urin zu viel Eiweiß nachgewiesen wurde, ergaben die folgenden Untersuchungen beim Facharzt: chronische Niereninsuffizienz. Das war 2004.

„Ich habe das erst einmal gar nicht verstanden. Ich war jung, steckte mitten im Abi“, erzählt Stefanie Vogel. „Ich dachte, ich nehme ein paar Medikamente und dann wird alles wieder gut.“ Dass es aber keinesfalls so einfach ist, merkte sie schnell. Ein starkes, hoch dosiertes Kortison veränderte ihr Aussehen und ließ ihre Kilos so schnell in die Höhe schießen, dass selbst ihre Lehrer sie grade mal einige Wochen später auf dem Abiball nicht mehr erkannten. Auch bedingt durch das Kortison hatte sie im selben Jahr eine beidseitige Lungenembolie, gefolgt von einer zweiten 2015 mit weiteren Thrombosen. „Da wurde es immer schwieriger für mich, mit all dem umzugehen. Ich hatte Panikattacken, wurde depressiv.“

Da die Erkrankung früh diagnostiziert wurde, kann ein Nierenversagen lange herausgezögert und eine Dialyse umgangen werden. „Am Anfang habe ich noch studiert und war auch ein-, zweimal laufen, um den Gewichtsproblemen durch das Kortison entgegenzuwirken. Hat natürlich nicht funktioniert und mich noch mehr frustriert.“ In einem für Jahre anhaltenden, schleichenden Prozess geht es Stefanie immer schlechter. Bis ihr irgendwann selbst das Treppensteigen als fast unmöglich erscheint. An Sport ist gar nicht mehr zu denken. Und auch psychisch leidet sie.

Als 2012 absehbar wird, dass Stefanie Vogel entweder Dialyse oder eine Nierenspende benötigt, steht es für ihre Mutter außer Frage, dass sie ihr eine Niere spendet. „Es gab da nie eine Diskussion. Sie hat von Anfang an gesagt, wenn es so weit ist, bekommst du meine Niere“, erzählt Stefanie Vogel. Deren Gefühle sind gemischt. Einerseits ist sie dankbar um diesen Rückhalt. Dass sie weiß, sie kann weiterleben und das auch ohne Dialyse. Andererseits hat sie auch Angst vor dem Ungewissen: „Ich hatte Angst davor, was mit meinem Körper passiert.“ Die körperlichen Veränderungen vom Beginn der medikamentösen Behandlung waren zwar mit der Zeit wieder zurückgegangen, aber die Erinnerungen daran noch sehr präsent. „Ich hatte gelesen, dass man unweigerlich 20 Kilo zunimmt, wenn man transplantiert ist, das Zahnfleisch wuchert über die Zähne. Es waren sehr gemischte Gefühle, die ich hatte. Ich wollte wieder gesund sein, aber ich hatte auch Angst vor dem Preis.“

Einen Preis, den sie heute rückblickend als banal bezeichnen würde. „Wahrscheinlich war es so etwas wie ein Schutzmechanismus, mich an Banalitäten wie äußerlichen Veränderungen festzuhalten, um mich nicht mit den entscheidenden Fragen auseinandersetzen zu müssen. Wie der Frage danach, ob meine Mutter den Eingriff überleben würde. Wie groß die Schmerzen nach so einer OP sein werden – immerhin werden hier 30 Zentimeter deines Bauchs aufgeschnitten – oder was ist, wenn alles umsonst wäre?“

Erst Besserung, dann ein herber Rückschlag

Und auch um ihre Mutter hat sie Angst, vor allem als sie sieht, wie diese nach der Transplantation leidet. „Es war schwierig für mich, dass es mir immer besser ging und ihr schlecht.“ Doch auch die Mutter erholt sich zum Glück von dem Eingriff.

Auch Stefanie Vogel geht es wieder besser. Sie arbeitet wieder Vollzeit, fährt sorgenfreier in den Urlaub. Sie ist überhaupt wieder belastbarer. Doch irgendwann bemerkt sie, dass sie ihren Blutdruck nicht mehr im Griff hat – schiebt es aber zuerst auf Stress, den sie mit ihrem damaligen Freund hat. Doch sie nimmt zu, die Beine werden dicker. Der Arzt, den sie aufsucht, beruhigt sie zuerst. Als es ihr aber immer schlechter geht, fährt sie in die Uniklinik. Und dort wird festgestellt: Nach nur eineinhalb Jahren stößt ihr Körper die transplantierte Niere ab. Das erneute das Nierenversagen droht.

Auf der Suche nach einer neuen Spenderniere

In der Uniklinik wird alles versucht, um die Niere zu erhalten. Antikörper gegen das Transplantat werden durch Auswaschen versucht aus der Blutbahn zu bekommen. Eine Chemotherapie soll gleichzeitig verbliebene Zellen abtöten. Und eine weitere Chemotherapie die Entstehung weiterer Antikörper verhindern. Die Belastung für Stefanie Vogel ist enorm. „Es ging mir extrem schlecht“, blickt sie zurück. An manchen Tagen will sie aufgeben. „Ich wollte die Medikamente und all die Behandlungen nicht mehr, von denen es mir von Tag zu Tag schlechter statt besser ging. Und zwischenzeitlich war es mir sogar völlig egal, ob ich weiterleben oder einfach sterben würde.“

Doch relativ schnell entscheidet sie sich für das Leben. Auch wenn bald klar ist, dass alle Behandlungen nichts bringen und eine Dialyse oder weitere Transplantation nötig ist. Sie sucht damals das Gespräch mit ihrem Onkel über das Thema einer möglichen zweiten Nierenspende. Er ist der jüngste Bruder ihrer Mutter und nur fünf Jahre älter als Stefanie Vogel.

Weil ihre Mutter nach Stefanies Geburt relativ früh wieder arbeiten ging, wuchs diese damals auch bei ihrer Großmutter mit auf, sie und ihren Onkel verbindet daher eher ein geschwisterliches Gefühl. Anders als ihre Mutter sagt er nicht sofort ja. Er informiert sich umfassend und denkt lange darüber nach, „was ich wirklich gut fand. Er war damals ja auch erst 36.“ Er geht zu Ärzten, informiert sich im Internet, geht zur Ethikkommission, stellt Fragen. Und entscheidet sich dann für die Spende.

Körperlich geht es ihr besser, aber der Kopf kann nicht vergessen

Ihr Onkel lebt heute ohne Beeinträchtigung. „Ich denke deswegen ist es für mich auch leichter, das Vergangene anzunehmen und damit zu leben. Denn ich sehe, dass er sein Leben ganz normal weiterlebt.“ Und auch Stefanie Vogel geht es seit dieser zweiten Transplantation 2015 körperlich gut. Seit zwei Jahren hat sie bei der Blutanalyse keine auffälligen Werte mehr. Allerdings: Auch wenn sie mit der zweiten Spenderniere schon viel länger lebt als mit der ersten – ob das für ewig so bleibt, kann niemand wissen . Denn in der Regel ist das Abstoßungsrisiko bei einer Zweittransplantation sogar höher.

Und das ist wahrscheinlich auch der Grund, weswegen sie das Thema nicht komplett abschließen kann. Einerseits wird sie ihr Leben lang Medikamente nehmen, die verhindern sollen, dass ihr Körper Antikörper gegen die neue Niere bildet. „Das ich diese Medikamente jeden Tag um 8 und um 20 Uhr nehme, wird eine Gewohnheit – normal ist das aber trotzdem nicht“, meint sie. Und nachdem sich mehr als zehn Jahre lang – zwischen der Erstdiagnose 2004 und der zweiten Transplantation 2015 – so viel in ihrem Leben um das Thema Niere, Behandlung und Transplantation gedreht hat, ist dies auch heute nicht einfach aus dem Kopf, dem alltäglich Leben und auch ihrem Verhalten zu verbannen.

Das Vertrauen in den eigenen Körper fehlt

Das Vertrauen, dass nun wirklich alles gut ist, ist nach der Operation nicht da. „In den ersten zwei, drei Jahren nach der Transplantation hatte ich das Gefühl, ich müsse alles machen, was vorher nicht möglich war. Ich hatte immer im Hinterkopf: Vielleicht ist es nächstes Jahr schon wieder ganz anders“, erklärt sie. Und auch wenn sie heute nicht mehr so denkt, bleibt trotzdem die Unsicherheit, was in der Zukunft ist.

Nach allem, was war, hat Stefanie Vogel verlernt, ihrem Körper zu vertrauen. „Ich bin zweitweise nicht mehr allein einkaufen gegangen und nicht mehr allein mit dem Auto gefahren. Jedes Schwitzen – zum Beispiel, weil es einfach grade warm war – habe ich als beginnenden Kreislaufzusammenbruch interpretiert. Bei jedem Kopfschmerz dachte ich sofort, mein Blutdruck ist zu hoch und es sei ein erstes Anzeichen für eine erneute beginnende Abstoßung.“

Manchmal, wenn es mir nicht so gut geht, und ich denke es ist wieder was Schlimmes, gehe ich laufen. Laufen gibt mir eine Bestätigung des Gesundseins, wenn ich unsicher bin.

Stephanie Vogel

Traum vom Laufen scheitert zunächst an der Angst

Körperlich aber geht es ihr wieder deutlich besser nach der zweiten Transplantation. Sie fängt wieder an als Qualitätsmanagerin zu arbeiten und meldet sich 2017 in einem Fitnessstudio an. Dort belegt sie Kurse für den Rücken, macht Kraft- und Cardio-Training. „Aber selbst da bin ich nur mit Begleitung hingegangen. Ich kannte einen höheren Puls noch nicht in einem positiven Kontext. Ich musste erst merken, dass ein Puls von 120, 130 nicht bedeutet, dass ich sterbe, sondern dass ich gerade einfach Sport mache.“ Schnell zeigt sich aber, dass sich der Ausdauersport positiv auf ihren Blutdruck und Herz-Kreislauf auswirkt.

Doch fast genauso schnell merkt sie auch, dass sie das Training im Fitnessstudio nicht befriedigt und sie Läuferinnen und Läufer in ihrem Freundeskreis oder auch wildfremde beneidet. „Und dann habe ich mich gefragt, warum ich sie beneide und nicht einfach selbst laufen gehe.“ Die Antwort war simpel: aus Angst. „Ich hatte Angst, dass mich mein Köper beim Laufen wieder im Stich lässt. Mir fehlte komplett das Vertrauen in meinen Körper. Und trotzdem hatte ich das unerklärliche Bedürfnis zu laufen, vielleicht um mir selbst oder meinen Spendern etwas zu beweisen, woran ich zu diesem Zeitpunkt selbst noch nicht glaubte.“

Der Laufstart glückt

Über Facebook sucht sie jemanden, der sie bei ihren ersten Laufversuchen begleitet und findet Anfang 2018 einen netten Mann aus dem Nachbarort, der selbst wieder mit dem Laufen beginnen will. „Das hat super funktioniert. Auch wenn es anstrengender war als erwartet und ich erst einmal niedergeschlagen war“, blickt sie zurück. Trotzdem bleibt sie dran und findet nach und nach Spaß am Laufen.

Doch schon im Sommer 2018 zieht sie um zu ihrem Freund in die Eifel. Der Laufpartner ist nicht mehr da. Und in der Vulkaneifel nahe der luxemburgischen Grenze ist auch das nächste Fitnessstudio nicht immer leicht zu erreichen. Um aber trotzdem weiter laufen zu können und erst einmal nicht auf sich allein gestellt in den fremden Wald zu müssen, kauft sie sich ein Laufband und richtet sich mit anderen Geräten einen kleinen Fitnessraum ein. Aber als der Wunsch danach, auch an Laufveranstaltungen teilzunehmen, immer größer wird, wagt die heute 37-Jährige schließlich den Schritt und geht in der Natur laufen.

Ihr Freund kann im Notfall immer helfen

Mit ihrem Freund Michael schafft sie sich ein System, in dem sie sich sicher fühlt. An ihrer Uhr aktiviert sie das Live-Tracking, sodass ihr Freund immer weiß, wo, wann und wie lange sie läuft. So kann er im Zweifelsfall bei ihr anrufen und weiß zur Not auch, wo sie sich befindet. Stefanie Vogel gibt das die nötige Sicherheit, mit der sie nun auch fremde Strecken erkundet – zum Beispiel im Urlaub auf den Trails der französischen Pyrenäen. Auch an Wettkämpfen nimmt sie manchmal teil, bereits 2018 bestreitet sie am Nürburgring den ersten Strongmanrun.

Aber es sind andere Dinge, die für sie der größte Gewinn sind. Seit etwa zwei bis drei Jahren braucht sie durch das kontinuierliche Laufen keine Blutdrucktabletten mehr. Und das Laufen hat ihr Freiheit gebracht. Nicht nur die Freiheit, es jederzeit und überall tun zu können. Sondern vor allem die Freiheit, sich und ihrem Körper wieder zu vertrauen, an die eigenen Grenzen zu gehen und manchmal auch darüber hinaus. Eine Freiheit, die Stefanie Vogel lange Zeit nicht vergönnt war und die sie sich durch das Laufen wieder zurückerobert hat. Laufen hat ihr mehr als jede Therapie auch dabei geholfen, die Signale ihres Körpers wieder richtig zu deuten. Panikattacken wurden erst weniger und verschwanden dann ganz.

Laufen gibt Stephanie Vogel Bestätigung

„Manchmal, wenn es mir nicht so gut geht, und ich denke es ist wieder was Schlimmes, gehe ich laufen. Wenn ich dann sehe ich kann sieben oder acht Kilometer laufen, dann sage ich mir, kann ich nicht krank sein. Laufen gibt mir eine Bestätigung des Gesundseins, wenn ich unsicher bin. Sogar meinen ersten Halbmarathon 2020 bin ich nur auf dem Laufband gelaufen, um mir selbst nochmal klarzumachen, dass es mir wirklich gut geht. “

Heute ist Laufen für sie ein Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit. Ein Gefühl von Selbstvertrauen und Selbstwertschätzung. „Kurz: Laufen bedeutet für mich, frei zu sein. Frei von Ängsten. Frei von negativen Gedanken. Frei von der Vergangenheit und der Zukunft.“

Organspendelauf

Stefanie Vogel ist Botschafterin des Organspendelaufs, den auch viele Prominente wie die deutschen Marathonläufer Philipp Pflieger, Lisa und Anna Hahner oder auch der zweimalige Marathon-Olympiasieger Waldemar Cierpinski unterstützen. Der Lauf findet sowohl vor Ort in Präsenz (das nächste Mal am 25.4.2023 in München) als auch virtuell statt. Zentrales Anliegen des Laufs ist es, das Thema Organspende und Organtransplantation in den Fokus der Öffentlichkeit zu rücken und so Menschen dazu anregen, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen.