Usain Bolt: Zu Besuch beim schnellsten Mann der Welt

| Martin Neumann I Fotos: Karen Fuchs, Puma
Zu Besuch beI Usain Bolt, der bei den Olympischen Spielen in Rio zum dritten Mal drei Goldmedaillen im Sprint gewInnen wIll: Wir waren in Jamaika auf Spure

Zu Besuch beI Usain Bolt, der bei den Olympischen Spielen in Rio zum dritten Mal drei Goldmedaillen im Sprint gewInnen wIll: Wir waren in Jamaika auf Spurensuche, warum die schnellsten Läufer der Welt aus der Karibik kommen.

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Der Sprint-König hält Hof in einer verlebten Sporthalle. Das Blechdach vibriert im böigen Wind, der von den Bergen außerhalb Kingstons hinunterweht. Einige Leuchtstoffröhren flackern. Nur die Sponsoren-Wand seines Ausrüsters Puma erinnert daran, dass an diesem Nachmittag in Jamaikas Hauptstadt der schnellste Mensch der Welt einer internationalen Journalistengruppe Frage und Antwort steht.

Obwohl Usain Bolt den ganzen Nachmittag von den Medien auf der nach ihm benannten blauen Laufbahn auf dem Gelände der Universität West Indies und anschließend in der Sporthalle befragt wird, ist der sechsmalige Olympiasieger entspannt wie eh und je. Ein Scherz da, ein Selfie hier, zwischendurch klingelt bei einer Frage sein Handy. Der 29-Jährige entschuldigt sich artig und schaltet es ab. Übel nimmt man ihm das nicht. Auf Jamaika ist Usain Bolt längst ein Idol, die Sport-Bühne will er als Legende verlassen. Sein Ziel: den Olympia-Hattrick von Peking 2008 und London 2012 über 100, 200 und 4x100 Meter in diesen Tagen in Rio zu wiederholen: „Wenn ich das Triple-Triple in Rio schaffe, dann kann ich mich mit Leuten wie Muhammad Ali und Michael Jordon vergleichen“, sagt der schnellste Mann der Welt.

2009 bei der WM in Berlin stürmte der damals 22-Jährige mit 9,58 Sekunden in neue 100-Meter-Sphären. Nur 41 Schritte brauchte er bis ins Ziel, erreichte dabei eine Spitzengeschwindigkeit von 44,72 km/h und legte ganz nebenbei auch die beste 60-Meter-Zeit der Geschichte hin. 6,31 Sekunden wurden von Biomechanikern ermittelt, acht Hundertstel schneller als der 60-Meter-Hallen-Weltrekord. Doch die Konkurrenz ist dem Jamaikaner mittlerweile auf die Pelle gerückt. Dopingsünder Justin Gatlin (USA) reiste 2015 ungeschlagen zur WM nach Peking – Bolt besiegte ihn dreimal. Allerdings trennte beide im 100-Meter-Finale nur eine Hundertstel.

Training um 5:30 Uhr am Morgen

Damit es auch so bleibt, trainiert Bolt extrem hart – und extrem früh. Am Tag nach dem Medientermin steht er eine halbe Stunde vor Sonnenaufgang auf der blauen Bahn in Kingston. Die Uhr zeigt keine sechs, dann sind die Temperaturen noch erträglich. Er muss schließlich eine Menge aufholen. „Im Januar hat mich eine Knöchelverletzung vier Wochen Trainingszeit gekostet, nachdem ich auf einer Stufe umgeknickt bin. Ich bin aber auf einem guten Weg und absolviere auch schon wieder Tempoläufe“, erläutert der Weltrekordler sein Missgeschick.

An diesem frühen Morgen stehen unter der Aufsicht von Coach Glen Mills Wiederholungsläufe über 120 Meter an. Zwischendurch wird Bolt immer wieder extrem gedehnt, er muss beweglich bleiben, um seine Muskeln auf Höchstleistung zu trimmen. Schließlich will er auf höchstem Niveau zum letzten Mal die olympische Bühne betreten. „Es wird definitiv mein letzter Olympia-Start. Es ist hart, noch vier weitere Jahre auf höchstem Niveau zu trainieren und zu laufen“, sagt Usain Bolt. Vielleicht wird er nach Rio noch ein Jahr dranhängen und nach den Weltmeisterschaften 2017 in London seine Karriere beenden: „Mein Coach hat mir geraten, in meinen Körper hineinzuhorchen und Jahr für Jahr zu entscheiden, wie es weitergeht.“

Während der schnellste Mensch der Welt etwas außerhalb Kingstons an seiner Form feilt, wollen in der Hauptstadt Jamaikas Tausende Kids in die Fußstapfen ihres Idols treten. Im Nationalstadion von Kingston ist es laut, eng und bunt. Tausende Vuvuzelas machen einen Höllenlärm, verständigen kann man sich beim wichtigsten Sportereignis des Jahres auf Jamaika nur schreiend. Dabei geht‘s vor mehr als 20.000 Zuschauer nicht um die Fußball-Meisterschaft oder die im Nationalsport Cricket. Nein, hier werden bei den Schulmeisterschaften des Landes – kurz „Champs“ genannt – die Leichtathletik-Stars von morgen gesucht. Fünf Tage dauern die „Champs“, die Wettbewerbe werden in voller Länge live im Fernsehen übertragen.

Die Besten werden unter anderen von 100-Meter-Olympiasiegerin Shelly-Ann Fraser-Pryce oder dem Ministerpräsidenten Andrew Holness geehrt. Ein Beleg für den immensen Stellenwert des Sports im Allgemeinen und der Leichtathletik im Speziellen auf Jamaika. Auch Usain Bolt hat sich seine ersten Sporen bei den „Champs“ verdient. 2002 und 2003 siegte er dort über 200 und 400 Meter und lief mit gerade einmal 16 Jahren die Stadionrunde in 45,35 Sekunden. Ein früher Beleg seiner Ausnahmestellung. „Ich liebe die Champs. Es ist eine tolle Chance für junge Talente“, sagt der sechsmalige Olympiasieger. Gleichzeitig sind die Schulmeisterschaften eine Art Klassentreffen. Viele Ehemalige säumen zusammen mit Eltern und Freunden der Youngsters die Tribünen. Natürlich gekleidet in den Schulfarben. Es dominieren Schwarz-Grün der Calabar High School und Lila-Weiß vom Kingston College. Für diese Schule startete einst Usain Bolt und besuchte nach seinen ersten großen Erfolgen noch so manches Mal im Shirt seiner Schule die „Champs“.

Talent-Schmiede "Champs"

Sind die Wettkämpfe zu Ende, wird in Kingston gefeiert. An jeder zweiten Ecke sind Soundsystems aufgebaut, Reggae-Beats wummern aus mannshohen Boxen. Der Duft des Nationalgerichts Jerk Chicken – ein lang und schonend gegrilltes Hähnen-Gericht – steigt in die Nase. Die Stadt gleicht einer einzigen großen Open-Air-Party, und die Bewohner machen die laue karibische Nacht zum Tag. Diese Lebensfreude ist tief in den Jamaikanern verwurzelt, obwohl viele von ihnen an der Armutsgrenze leben.

Für Usain Bolt war die Leichtathletik der Weg in den Wohlstand. Das Wirtschaftsmagazin „Forbes“ schätze sein Jahreseinkommen auf rund 20 Millionen Euro. Damit ist er der einzige Leichtathlet unter den Top 100 der bestverdienenden Sportler weltweit. Bolts Antrittsgelder im sechsstelligen Bereich spielen bei der Gesamtsumme nur eine untergeordnete Rolle. Der sportliche Erfolg geht im sportverrückten Jamaika einher mit großer Anerkennung. Besonders ihren Vorzeigesportler haben die Jamaikaner ins Herz geschlossen. Schließlich hätte Usain Bolt schon längst die Insel verlassen und etwa in die USA gehen können. Doch er ist Jamaika treu geblieben. Das rechnen ihm die Einwohner hoch an.

Um gut leben zu können, müssen Sportler in Jamaika gar nicht in die kaum erreichbaren Verdienst-Sphären eines Usain Bolt vorstoßen. Das Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner beträgt in Jamaika in etwa ein Zehntel des deutschen. Damit rangiert das Land im Weltmaßstab zwischen Jordanien und dem Iran. Das erkennt man überdeutlich bei Fahrten über die Insel. Viele der drei Millionen Einwohner leben in Häusern aus Wellblech. Strom und der Anschluss an fließendes Wasser wie Abwasser sind speziell in ländlichen Gebieten die Ausnahme.

Auch Usain Bolt wuchs in einer solchen Gegend auf. In der Region Trelawny im Norden der Insel zwischen der Hauptstadt Kingston und dem Touristen-Ort Montego Bay tobte der junge Usain zwischen Urwald-Palmen und auf roten Sandpisten herum. So schulte er ganz spielerisch seine sportlichen Fähigkeiten. Hinzu kommen die für Karibik-Sprinter nachgewiesenen „schnellen“ Gene. Zusammen mit den sozialen Aufstiegschancen und der Tatsache, dass die Leichtathletik die Sportart Nummer eins in Jamaika ist, ergibt sich ein perfekter Nährboden für außergewöhnliche Leistungen. 

100-Meter-Finale in der Nacht zum Montag

Trotzdem läuft bei den jamaikanischen Sprintern der Verdacht mit. Es gibt immer wieder Pannen in den Anti-Doping-Programmen des Landes. Vor Olympia 2012 soll es über viele Wochen keine unangemeldeten Kontrollen gegeben haben. Das käme einem  Doping-Freifahrtschein in der entscheidenden Trainingsphase vor Olympia gleich. Noch pikanter: In den vergangenen Jahren wurden immer wieder jamaikanische Sprinter des Dopings überführt, darunter Ex-100-Meter-Weltrekordler Asafa Powell und die zweimalige Olympiasiegerin Shelly-Ann Fraser-Pryce. Zuletzt wurde bei einem Nachtest der Olympischen Spiele von Peking Sprinter Nesta Carter erwischt. Da er damals mit Bolt in der 4x100-Meter-Staffel gewonnen hatte, könnte Bolt diese 2008 gewonnene Goldmedaille aberkannt werden.

Usain Bolt zählt allerdings seit Jahren zu denen am häufigsten getesteten Sportlern der Welt. Seine Dopingproben wiesen nie Spuren unerlaubter Mittel auf, und selbst bei Dopingjägern steht er nicht auf der Liste der Verdächtigen. Sein Ausnahmekönnen war schon in jungen Jahren erkennbar. Er tauchte nicht plötzlich auf.  

Dass er nach Ausnahmeleistungen immer wieder mit dem Thema Doping konfrontiert wird, macht ihm nichts aus. Auch an verspätete Saisonstarts nach leichten Verletzungen hat sich der 29-Jährige gewöhnt: Vergangenes Jahr startete er nur bei einem hochkarätigen 100-Meter-Rennen vor der WM – und wurde wenig später in Peking dreimal Weltmeister.  Macht er an der Copacabana das olympische „Triple-Triple“ perfekt (100-Meter-Finale: 15. August, 3:25 Uhr deutscher Zeit) würde er den roten Ledersessel vom Pressegespräch in Kingston endgültig gegen einen Ehrenplatz im Sport-Olymp tauschen.