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Paraolympionike Henry Wanyoike
Wie ein blinder Läufer Spenden für Kinder sammelt und Hoffnung verbreitet

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Der Kenianer Henry Wanyoike, der seine Sehkraft verloren hat, aber nicht seine Vision: Einen Marathon unter 2:30 Stunden laufen.

Beim Berlin-Marathon hat er mit 2:46 Stunden vor ein paar Tagen sein Comeback angekündigt. Wie der 46-Jährige trotz übriggebliebenen 5 Prozent Sehkraft voller Motivation auf sein nächstes Ziel hintrainiert und Hoffnung an seine Mitmenschen schenkt, liest du hier.

Henry Wanyoike stammt aus Kikuyu, ein paar Kilometer von Nairobi entfernt. Seit seiner Jugend ist er ein begeisterter Läufer. 1995 wacht der damals 21-Jährige nach einem Schlaganfall blind auf. Zuerst nahm ihm dieser Schicksalsschlag fast seinen ganzen Lebenswillen, doch die Leidenschaft zum Laufen gab ihm Hoffnung. Heute hat er mehrfach an den Paralympischen Spielen teilgenommen und hält verschiedene Weltrekorde. Außerdem ist er Ehemann, Vater von vier Kindern, Gründer einer eigenen Charity-Stiftung und es gibt ein Buch („Victory Despite Blindness“) sowie einen Film („Gold – Du kannst mehr als Du denkst“) über ihn.

Blinde Athleten laufen zusammen mit einem sehenden Begleitläufer, indem sie über ein Band miteinander verbunden sind. Henrys Laufpartner ist Paul Wanyoike, der ihn nicht nur bei jedem Schritt begleitet, sondern auch zufällig denselben Nachnamen hat. Die beiden laufen international seit vier Jahren zusammen, im Training bereits seit zehn Jahren.

Beim Laufen als Paar ist Rhythmus und Koordination gefragt

Da Paul einen Kopf größer als Henry ist, müssen die beiden ihre Schrittlänge und -frequenz sehr gut aneinander anpassen: „Wenn wir laufen, fällt es tatsächlich nicht auf, dass Paul größer ist als ich. Der Rhythmus ist sehr reibungslos und eingespielt. Das war nicht von Anfang an so, aber da wir jetzt seit ein paar Jahren gemeinsam laufen, haben wir den gleichen Rhythmus.“ Der sehende Begleitläufer trägt eine große Verantwortung für beide. So beschreibt Henry Wanyoike die Aufgabe von seinem Guide Paul: „Es ist so, als wäre ich ein kleines Baby und Paul ist die Mutter, die nach ihrem Kind schauen muss. Paul ist da, um die Zeit und die Pace im Blick zu haben, um zu planen, wo wir herlaufen, wo ich hintrete und er muss auf sich selbst aufpassen. Besonders schwierige Situationen für Henry und Paul sind zum Beispiel im Wettkampf der Verpflegungspunkt und die Startphase, in der es oft chaotisch zugeht und viele Überholmanöver stattfinden.

Der Paraolympionike hat guten Kontakt zu Eliud Kipchoge und lacht über sein letztes Treffen mit ihm: „Das letzte Mal als wir uns sahen, habe ich ihm vorgeschlagen, dass er mit verbundenen Augen und einem Begleitläufer einen Marathon oder 10 Kilometer gegen mich laufen soll. Dann würden wir gucken, wer schneller ist. Er hat die Challenge nicht angenommen. Er weiß, dass es schwierig ist“.

Fünf Jahre nach seinem Schlaganfall nimmt er an den Paralympischen Spielen teil

Im Jahr 2000 hatte Henry Wanyoike seinen Durchbruch: Bei den Paralympischen Spielen in Sydney gewinnt er seine erste Goldmedaille über 5.000 Meter. Seine aktuellen Weltrekorde über 5.000 Meter (15:11:07 min) und 10.000 Meter (31:37:25 min) lief er 2004 bei den Paralympics in Athen. Im gleichen Jahr stellte er in Hong Kong eine neue globale Bestzeit für die Halbmarathon-Strecke (1:10:26 h) auf. Darauf folgte 2005 beim Hamburg-Marathon sein Weltrekord in 2:31:31 Stunden, der 2008 in Peking jedoch von dem chinesischen Läufer Qi Shun auf 2:30:32 Stunden verbessert wurde.

2008 erlitt Henry Wanyoike in Kenia einen schweren Autounfall. Er verletzte sich dabei an der Hand und musste operiert werden. Später entzündete sich seine Hand, woraufhin er erneut operiert werden musste. Bei den Paralympischen Spielen 2008 in Peking war Wanyoike Fahnenträger Kenias und errang trotz seiner erst kurz verheilten Verletzung die Bronzemedaille über 5000 Meter. Seitdem legte Henry eine Marathonpause ein und konzentrierte sich auf den Halbmarathon und die kürzeren Distanzen.

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Comeback mit 47 Jahren: Hartes Training soll sich bald auszahlen

„Wenn man auf unsere Leistung von 2019 bis jetzt schaut, läuft es ganz gut für uns“, so der zielstrebige Kenianer. Über die Halbmarathon-Stecke ist Henry mit seiner Laufbegleitung in Australien mit einer Zielzeit von 1:15 Stunden bereits nah an seine Bestzeit von 2004 rangekommen: „Man kann also sehen: Wir kommen zurück!“ Beim Zürich-Marathon kam das Laufteam nach 2:43 Stunden ins Ziel, ein paar Monate später liefen sie in Pisa eine Zeit von 2:39 Stunden. „Es geht wieder aufwärts“, ist sich Henry Wanyoike sicher. Er möchte sich den Blindenmarathon-Weltrekord zurückholen und die 42,195-Kilometer-Strecke unter der markanten Grenze von 2:30 Stunden schaffen. „Die letzten zwei Jahre haben wir sehr hart trainiert, damit wir es zu meinem Ziel von 2:30 Stunden schaffen, das ist es, was wir nächstes Jahr vorhaben und ihr werdet gute Ergebnisse von uns sehen.“

Henry und Paul Wanyoike laufen in Kenia zwischen 120 und 140 Wochenkilometer. In manchen Trainingsphasen auch mehr. Das Lauf-Duo übernimmt die Trainingsplanung selbst. Paul ist der Trainer und erstellt das Trainingsprogramm mithilfe eigener Erfahrungen, aber generell sei die Planung Teamwork. Sie müssen sich einig darüber sein, was sie machen. Dennoch trainieren die beiden oft in einer großen Gruppe mit 20 Leuten, was Henry sehr motiviert: „Manche sind älter als ich und trotzdem sehr gut, manche sind jünger. Egal wie alt, wir verfolgen alle ein Ziel: Schneller laufen. Das motiviert mich sehr.“

Paul Wanyoike ist vor langer Zeit schonmal 2:26 Stunden im Marathon gelaufen. Heute würde er sich sogar eine Zeit von 2:20 Stunden zutrauen. „Also ist er der richtige Mann für mein Ziel von 2:30 Stunden“, betont Henry. Vor ein paar Tagen in Berlin war das eigentliche Ziel des Laufpaares eine Zeit von 2:35 Stunden. Doch Paul war angeschlagen, da er zwei Wochen vorher im Training umgeknickt ist und sich leicht an der Achillessehne verletzt hat.

Noch schneller mit einem Laufschuh aus Deutschland

Seit einigen Wochen trainieren die Wanyoikes in den Schuhen des deutschen Running Start-Ups True Motion. Der U-Tech Solo von True Motion soll genauso effektiv und energiesparend wie Carbonschuhe sein und gleichzeitig die Belastung des Kniegelenks reduzieren. Das bestätigt Henry Wanyoike: „Der neue Solo ist enorm schnell und fühlt sich dabei bequemer als andere Wettkampfschuhe an. Der Laufschuh kann den Druck absorbieren und wenn man auftritt, hat man keine Schmerzen vom Aufprall. Man spürt den Boden nicht. So ist es einfacher, einen guten Laufschritt zu machen.“

Auch nach dem Berlin-Marathon konnten die beiden Kenianer ein gutes Resümee ziehen: „Man hat es schon nach dem Lauf und am nächsten Tag gemerkt: Wir konnten uns ohne Muskelkater bewegen und sogar am nächsten Tag schon wieder laufen gehen. Die neuen Technologien helfen da sehr. Das sieht man auch an unseren Gesichtsausdrücken im Ziel: Sonst kann man uns die Schmerzen im Gesicht ansehen, in Berlin sahen wir im Ziel ziemlich relaxed aus.“

Paul und Henry Wanyoike sind sehr dankbar über die Partnerschaft mit True Motion: „Wir können direktes Feedback geben, das in der Herstellung sofort umgesetzt werden kann. Und jetzt, wo wir die richtigen Schuhe haben, werden wir noch schneller laufen können. Nächstes Jahr werdet ihr die Ergebnisse sehen.“

Auch das Team um True Motion Mitgründer Prof. Dr. Gert-Peter Brüggemann, der zu den renommiertesten Biomechanikern weltweit gehört, ist stolz auf die Partnerschaft. „Henry Wanyoike ist nicht nur ein erstklassiger Läufer, sondern auch ein toller Mensch. Als blinder Sportler verlässt er sich komplett auf sein Gespür und seine Rückmeldung zu den Schuhen ist für uns besonders wichtig“, sagt Brüggemann.

Henry Wanyoike Foundation gibt Menschen Hoffnung

Im Jahr 2005 gründete Henry Wanyoike die gleichnamige Stiftung, die hilfsbedürftigen Menschen aus seiner Heimat unterstützt und ihnen Hoffnung schenken soll. Die Henry Wanyoike Foundation engagiert sich in den Bereichen Gesundheit, Menschen mit Behinderungen, Umwelt, Sport, Bildung und sozioökonomische Selbstbestimmung. So können beispielsweise Gesundheits-Pakete, ausgewogene Essensspenden und Mobilitätshilfen für Beeinträchtigte gespendet und Schulungen zur Baumpflanzung unternommen werden.

Außerdem wurde mithilfe der Organisation ein Kindergarten für 75 Kinder errichtet. Henry organisiert jährlich mit seinen Freunden aus der Stiftung einen „Hope4TheFuture-Run“ mit mehr als 10.000 Teilnehmern. Das ist nach dem Nairobi-Marathon die größte Laufveranstaltung in Kenia. Aus Veranstaltungen wie dem Berlin-Marathon lernt Henry Wanyoike: „Wir versuchen das, was wir hier sehen, mitzunehmen und es zurück zu unseren Leuten mitzunehmen.“ Der Charity-Lauf soll Projekte der Stiftung supporten: „Bereits mit unserem Charity-Projekt beim Nairobi-Marathon konnten wir vielen tausenden Kindern helfen, die jetzt die Schule besuchen können.“ Henry Wanyoike besuchte bisher bereits über 800 Schulen: „Die Nachricht ist, Hoffnung zu geben.“

Die Spendengelder stammen von privaten Leuten, Charity-Events wie beispielsweise der „Hope4TheFuture-Run“ und Unternehmen, die sich teilweise seit 2005 engagieren. „Ich bin immer dankbar, zu weltweiten Projekten eingeladen zu werden. Denn wenn man mehr in Kontakt mit anderen Menschen ist, bekommt man Updates, was in der Welt passiert, lernt neue Technologien und Menschen kennen, die wiederum meiner Stiftung helfen können. So konnte zum Beispiel dafür gesorgt werden, dass einige Menschen in Kenia nun immer genügend Wasser zur Verfügung haben. Das erscheint vielleicht wie ein Tropfen im Ozean, aber es macht am Ende des Tages einen großen Unterschied.“

Vor kurzem war der Weltrekordler von der Bundeswehr eingeladen, einen Vortrag für diejenigen zu halten, die sich bei Bundeswehr-Einsätzen verletzt haben. Henry erzählt seine Geschichte und überbringt seine Nachricht der Hoffnung: „Um ihnen zu zeigen: es ist wie es ist und es geht weiter.“

Wanyoikes Barmherzigkeit und Engagement wird belohnt

Für seine zahlreichen guten Taten wurde Wanyoike bereits mehrfach ausgezeichnet. 2005 wurde er für den Laureus World Sports Award in der Kategorie Welt-Sportler des Jahres mit Behinderung nominiert. Damit war er der erste kenianische Sportler, der eine Nominierung für diesen Award erhalten hatte. 2020 wurde der 47-Jährige mit dem Sonderpreis des German Paralympic Media Award ausgezeichnet. Dieses Jahr hat er den Most Resilient Sportsman Of The Year Award bei den Sport Of The Year Awards (SOYA) erhalten. Für Henry Wanyoike ist das die größte Sport-Auszeichnung, die man in Kenia erhalten kann: „In einem Land wie Kenia mit seinen vielen weltbekannten Sportlern eine solche Auszeichnung zu erhalten, ist eine große Ehre für mich.“